Inessa Petrowna Sch. – Freitagsbrief Nr. 139

Ukraine, Charkiw

An den Leiter des gemeinnützigen Vereins KONTAKTE-KOHTAKTbI
Herrn Eberhard Radczuweit

Erinnerungen an die Kindheit.

Im Herbst 1941 besetzten deutsche Truppen Charkiw, die Stadt, in der ich am 20. März 1935 geboren war und mit meinen Eltern lebte.

Gleich nach der Okkupation konnten viele aus Charkiw fliehen, aber unsere Familie hatte es nicht mehr geschafft. Die Besatzer brachen in die Wohnungen ein, nahmen alles mit und schikanierten die Menschen, vor allem diejenigen jüdischer Herkunft.

Bald wurde ein Erlass veröffentlicht, der die gesamte jüdische Bevölkerung dazu aufforderte, sich an einem bestimmten Ort in der Nähe der Traktorfabrik zu versammeln. Meine Mutter Krakower Paschet Semjonowna brachte mich zu russischen Bekannten, sie selbst war gezwungen, sich zu diesem Sammelpunkt zu begeben und wurde bald darauf mit sechzehntausend anderen Juden im Drobizkij Jar erschossen. Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt an der Front, wo er bald starb. Plötzlich bekamen die Deutschen durch die Anzeige eines Polizai mit, dass in unserem Haus ein jüdisches Mädchen lebte. Ich wurde sofort ins Kinderheim gebracht. Dort lebte ich bis 1944. Es gab viele kranke, ausgemergelte Kinder. Es herrschten Hunger, Kälte, Schmutz, Läuse, Krätze, unhygienische Verhältnisse. Wenn es überall um uns herum brannte, explodierte, wurden wir Kinder in den Keller gescheucht, bekamen jeder einen Zwieback und einen Schluck Wasser. Meine Beine faulten von der Krätze bis auf die Knochen. Ich habe wie durch ein Wunder überlebt, denn jüdische Kinder wurden von den SS-Männern vernichtet. 1944 fand mich meine Tante und nahm mich mit nach Berdsk im Gebiet Nowosibirsk. Bald kehrten wir wieder nach Charkiw zurück, wo wir jahrelang durch Keller und Dachböden irrten. Mein Haus war vollständig zerstört worden.

All diese Strapazen gingen nicht spurlos vorüber. Heute leide ich an einer ganzen Reihe chronischer Krankheiten. …

Ich wünsche Ihnen von Herzen eine gute Gesundheit und Erfolg bei Ihrer wohltätigen Arbeit.

In tiefer Achtung

Sch. I. P.

4. April 2015

Aus dem Russischen von Jennie Seitz