Aleksandr Aleksandrowitsch Kobelew – Freitagsbrief Nr. 138

Belarus, Gebiet Gomel
November 2005

Sehr geehrte Herren,
sehr geehrte Frau Dr. Hilde Schramm,
sehr geehrter Herr Radczuweit,
sehr geehrte Beteiligte am Projekt Kontakte!

Ich danke Ihnen für die materielle Hilfe, die Sie mir als ehemaligem Kriegsgefangenen haben zukommen lassen, und für Ihren Brief, der herzerwärmend war.

Sie haben vollkommen Recht, dass wir Menschen mit einander Austausch haben müssen, um einander zu verstehen. Denn der Mensch wird auf diese Welt geboren, um Glück, Freude, Gutes und Frieden zu erleben. Ich denke, je mehr Menschen das verstehen, umso ruhiger kann unser kleiner Planet Erde sein.

Ich freue mich, dass es in Deutschland Menschen gibt, die begreifen, welches Leid und welchen Schmerz der Faschismus in Deutschland mit Hitler an der Spitze über die Menschen gebracht hat.

Mein Dank gilt Ihnen für Ihre edelmütige Tätigkeit. Und allen guten Menschen in Deutschland wünsche ich Gesundheit, Glück, Freude und Wohlergehen im Leben.

Auf Ihre Bitte hin schreibe ich jetzt etwas über mich:

Ich, Aleksandr Aleksandrowitsch Kobelew, wurde 1919 im Dorf Koschkino, Kreis Wilegod im Gebiet Archangelsk, Russland, geboren. Meine Nationalität ist russisch. Im September 1939 wurde ich einberufen. Ich diente als Gemeiner Soldat der 225. Kfz-Kompanie der 3. Schützendivision der Marineinfanterie. Unsere Einheit lag auf der Insel Saaremaa. Gleich bei Kriegsbeginn sammelten wir die Seeleute bombardierter Schiffe vom Ufer und brachten sie ins Innere der Insel. Es gab drei sowjetische Flugplätze auf Saaremaa. Während der Okkupation sowjetischen Territoriums und während der Blockade Leningrads blieb die Insel frei, und die sowjetische Luftwaffe konnte von hier aus via Dänemark Angriffe auf Berlin fliegen. Deshalb befahl Hitler, die Insel unter allen Umständen zu erobern. Ab dem 25. August 1941 wurde die Insel erbittert umkämpft. Wir leisteten hartnäckigen Widerstand, aber am 5. Oktober wurde die Insel erobert und sämtliche Teilnehmer an den Kämpfen wurden gefangen genommen. Wir versuchten zu fliehen und an der schmalsten Stelle (8 Kilometer) das Festland zu erreichen, aber die örtliche – estnische – Bevölkerung wollte uns ertrinken lassen. So blieben wir in deutscher Gefangenschaft.

Wir wurden auf Lastkähne verfrachtet und nach Tarttu gebracht. Ich unternahm einen Fluchtversuch, aber vergeblich, ich wurde erneut gefangen. Viele von uns kamen um, und wir Überlebenden wurden sortiert und die einen hierhin, die anderen dorthin geschickt. Ich erinnere, wie ich gefragt wurde „Bist du Russe oder Ukrainer?“ Die Ukrainer wurden nach Hause geschickt, und wir kamen in den Kreis des Tschudskoje-Sees nach Gdow [Peipussee in Estland] und wurden dort in einem Lager untergebracht. Wir mussten in der Forstwirtschaft arbeiten. Wir fällten Bäume, luden die Stämme auf und schleppten sie weiter. Die Arbeit überstieg unsere Kräfte, aber es gab kein Entrinnen. Die Jahreszeit wurde schon kalt, aber wir waren immer noch leicht bekleidet und ohne Schuhzeug. Großer Dank gebührt der Zivilbevölkerung. Sie brachte uns Kleidung, Schuhe und Lebensmittel, und half, wo sie konnte. Ich bekam Filzstiefel, die ich mir passend nähte und so Wärme für die Füße hatte.

1943 wurden wir nach Estland überführt, wo wir im Straßenbau arbeiten mussten. Danach kamen wir nach Ostpreußen und Polen. Dort wurden wir in Arbeitslagern gehalten und wurden zu schweren und schwierigen Arbeiten im Bau eingesetzt. Das ist nun 60 Jahre her, und immer noch widerstrebt es mir, das Erlebte zu erinnern. So schmerzhaft und belastend ist es, dass die besten Jugendjahre in derartiger Mühsal und Erniedrigung vergangen sind.

Nach der Befreiung durch die sowjetische Armee im Juni 1945 wurden wir aus Kibartai in Litauen nach Moskau gebracht, wo ich am Bau des Chemischen Instituts beteiligt war und den Facharbeiterbrief eines Monteurs für Sauerstoffanlagen erwarb. Ich war auf Baustellen in zahlreichen Städten tätig. In Mosyr [Gebiet Gomel in Belarus] war ich beim Bau des Wärmekraftwerks beschäftigt und erwarb eine weitere zivile Qualifikation, die eines Hochspannungselektrikers. Ich arbeitete in einem Betonwerk und auf anderen zivilen Baustellen. Mit einem Wort, ich half, unser vom Krieg zerstörtes Land wieder aufzubauen.

Für meine Arbeitsleistungen bin ich mehrfach ausgezeichnet worden und habe in diesem Jahr für Verdienste bei Planung und Bau des Bjelorussischen Kraftwerks den Titel „Ehrenmitarbeiter des Bjelorussischen Kraftwerks“ erhalten und die Jubiläumsmedaille „60 Jahre Sieg im Großen Vaterländischen Krieg 1941 – 1945“.

Ich hatte Anspruch auf eine staatliche Wohnung, aber wir bauten ein Eigenheim, weil meine Frau so gern im Garten arbeitet. Ich habe einen Sohn groß gezogen, Jahrgang 1949, der seine Dienstzeit in Deutschland ableistete. Jetzt habe ich einen Enkel und Urenkelkinder.

Den Grund dafür, dass ich am Leben geblieben bin, dass ich die Leiden der Gefangenschaft und die Schrecknisse des Krieges überstanden habe, sehe in dem Umstand, dass ich gläubig bin. Ich denke, mein Glaube an Gott den Herrn hat mir geholfen, bis auf diese Tage zu leben. Heute bemühe ich mich ungeachtet meiner Verletzungen und des Verlustes meiner Gesundheit durch die Kriegsjahre, im Rahmen meiner Möglichkeiten tätig zu sein und Gutes zu tun. Ich verstehe, dass jeder sein Kreuz im Leben tragen muss, und bemühe mich, das zu tun.

Möge Frieden herrschen auf der Welt, dann ist das Glück in jedem Haus!

Ich wünsche Ihnen allen und Ihren Kindern und allen Menschen guten Willens Gesundheit, Glück, Freude, Zufriedenheit und Erfolg bei allen ihren guten Taten, und ein langes Leben.

In Dankbarkeit

der ehemalige Kriegsgefangene

Kobelew Aleksandr Aleksandrowitsch

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