Galina Vasilyevna N. – Freitagsbrief Nr. 162

Ukraine, Gebiet Tscherkassy
Februar 2021

Sehr geehrte und sehr liebe Gottfried Eberle und Sybille Suchan-Floss!

Ich habe einen Brief von Ihnen erhalten und beschlossen, Ihnen zu schreiben und Ihnen für Ihre Hilfe zu danken und dafür, dass wir Ihnen nicht gleichgültig sind.

Ich bin sehr dankbar, dass die neue junge Generation in Deutschland uns versteht und uns (Gefangenen) helfen will. Ich begrüße das und danke Ihnen dafür und wünsche Ihnen und Ihrem ganzen Volk gute Gesundheit und Frieden.

Ja, diese Hilfe hilft mir sehr, denn unsere Renten sind klein. Sagen wir, ich habe eine Rente von etwa 100 $. Wir müssen Versorgungsrechnungen bezahlen, die jetzt sehr hoch sind, vor allem für Gas, Strom und Wasser. Während der Heizperiode im Winter sind es etwa 100 $ im Monat, und für Lebensmittel und Medikamente reicht das Geld nicht. So sieht unser Leben aus. Ich kann in meinem Alter und bei meiner Gesundheit kein Geld dazuverdienen. So überlebe ich irgendwie. Und dank Ihnen, weil Sie mir mit Medikamenten helfen, habe ich davon genug für 3-4 Monate.

Ich werde Ihnen kurz von mir erzählen.

Meine Mutter, Juzefa Iwanowna T., wurde am 24. November 1942 als Mädchen nach Deutschland verschleppt und blieb dort bis zur Befreiung bis zum Ende des Krieges. Sie arbeitete in irgendeiner Fabrik (ich weiß es nicht), dann war sie im Dienst eines Herrn in Staer [Steyer?] (jetzt heißt es anders). Ihr Herr war Priester.

Ich erinnere mich, als ich klein war, erzählte sie mir, dass ihr Herr zwei Töchter hatte, die Kundi und Heidi hießen, sie waren damals etwa 3-4 Jahre alt. Vielleicht sind sie noch am Leben. Sie waren schön, gehorsam und freundlich, meine Mutter kümmerte sich um sie und versorgte sie. Die Besitzer waren bei der Arbeit und sie war die Hausfrau. Sie haben meine Mutter sehr gut behandelt. Sie kleideten sie, ernährten sie und gaben ihr Geschenke. Und als sie (schon mit mir) nach Hause in die Ukraine kam, brachte sie eine Menge Geschenke und verschiedene Kleidungsstücke mit.

Das deutsche Tischtuch habe ich noch, ich behalte es als Reliquie. Es ist sehr alt und schäbig (über 75 Jahre). Ich nehme es oft in die Hand und schaue es an und erinnere mich an meine Mutter, es ist mein einziges Erinnerungsstück an sie.

Es ist ungefähr 60 Jahre her, dass meine Mutter verstorben ist. Ich hatte eine sehr schwierige Kindheit. Als meine Mutter mich aus Deutschland mitbrachte, hielten alle unsere Nachbarn, Verwandten und sogar die Eltern meiner Mutter sie für eine Verräterin und Volksfeindin. Und jeder nannte mich ein “deutsches Hündchen”. Meine Großmutter gab mir nichts zu essen und wollte, dass ich verhungere, weil ich “rothaarig” war und nicht wie alle.

Es hat lange gedauert, bis meine Mutter eine Arbeit bekam – sie wurde nirgends akzeptiert (als Verräterin), es herrschte Misstrauen ihr gegenüber. Als ich heranwuchs, traute ich mich nicht hinaus, alle Gleichaltrigen und sogar Erwachsene hänselten mich, wollten nichts mit mir zu tun haben, weil ich “eine Fremde” war. Ich weiß bis heute nicht, wer mein Vater ist. In der Geburtsurkunde stehe da ein Strich, und meine Mutter hat sich meinen Vatersnamen selbst ausgedacht. Oft fragten Erwachsene, um mich schmerzlich zu treffen und zu beleidigen, nach meinem Vatersnamen, als ob der ihnen nicht gleichgültig wäre, aber tatsächlich in der Absicht zu sticheln, und das war sehr schmerzhaft und verletzend für mich. Aber es war nicht die Schuld meiner Mutter, es war damals so. Und ich denke, dass es Frieden auf dem ganzen Planeten geben wird, und dass die Kinder des ganzen Planeten und die Erwachsenen glücklich und gesund sein werden.

Das war meine Kindheit, ich hatte die ganze Zeit Angst vor jemandem oder etwas. Meine Mutter war sehr krank, sie litt an Epilepsie (von den Nerven her und durch ihr Leid). Sie lag oft, fast die ganze Zeit, im Krankenhaus, und ich war allein zu Hause, es gab nichts zu essen, ich litt und hungerte, hatte nichts zum Anziehen. Als ich in der 5. Klasse war, wurde ich in einem Waisenhaus untergebracht. Dort wurde mein Leben besser, ruhiger und lustiger. Niemand wusste etwas über meine Vergangenheit, wo ich geboren wurde und woher ich kam, aber bald starb meine Mutter, mit 40 Jahren.

Ich habe die Schule und die Berufsschule, dann die Universität abgeschlossen, ich habe eine Hochschul-Ausbildung, und arbeitete über 35 Jahren in der Bezirksverwaltung als Leiterin der Personalabteilung, bekomme aber, wie Sie sehen, im Alter nur so ein paar elenden Groschen, dass es nicht zum Leben reicht, und ich bin sehr froh über Ihre Hilfe. Was für einen Staat wir haben! Wie er für seine Rentner sorgt!

1987 war ich auf einer Touristenreise in Deutschland (DDR). Zu dieser Zeit diente mein Sohn in der Armee in der Stadt Rosslau, in der Nähe von Magdeburg. Ich habe die Reise gemacht, um ihn zu treffen. Wir hatten ein Treffen und er wurde beurlaubt, um 3 Tage mit unserer Gruppe zu verbringen. Als ich mit ihm durch Berlin spazierte, flatterte mein Herz, es schien, als sei irgendwo etwas mir “Verwandtes”, nur wusste ich nicht, in welcher Stadt.

Und jetzt lebe ich allein als Witwe, mein Mann ist 2001 gestorben. Mein Sohn Alexander ist 2017 an einem Herzinfarkt gestorben. Es ist jetzt sehr, sehr schwer für mich. Ich bin sehr krank seit dem Verlust meines Mannes, und vor allem seit dem Verlust meines lieben Sohnes. Durch den starken Stress habe ich Diabetes, hatte 2 Herzinfarkte, und ich brauche ständig Behandlungen und Medikamente. Ich bin sehr dankbar, dass Ihre jüngere Generation sehr verständnisvoll ist und uns hilft. Gesundheit für Sie alle, für die junge Generation und für Ihre ganze Nation.

Und ich würde so gern etwas über diese beiden Mädchen erfahren: Kundi und Heidi , ob sie am Leben sind, in welcher Stadt sie wohnen, ob sie Kinder und Enkel haben. (Damals wohnten sie in der Stadt Schtaer.) Ich möchte mit ihnen Kontakt haben, vielleicht erinnern sie sich an meine Mutter und könnten etwas über sie erzählen.

Meine Mutter war die ganze Zeit krank und ich war klein, sie hat mir sehr wenig über das Leben in Deutschland erzählt und deshalb habe ich es sehr kurz beschrieben.

Das ist alles. Ich bin Ihnen sehr dankbar für Ihre Hilfe. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Gesundheit, Frieden, ein ruhiges Leben und alles Gute.

Mit Hochachtung vor Ihnen, ich, Galina Vasilyevna N. , 88

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt