Nina Michaylowna N.-Z. – Freitagsbrief Nr. 163

Gebiet Donezk, Ukraine

Nina Michajlowna N.-Z. hat uns im Februar zusammen mit einem Brief diesen Zeitungsausschnitt (einer russischsprachigen Zeitung) geschickt. Im Bericht erwähnt wird, dass im Zuge der so genannten “Zwangsarbeiterentschädigung” auch minderjährige Häftlinge Anträge stellten. Da es für sie eine Öffnungsklausel im Stiftungsgesetz der Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” gab, konnte ihnen nach Abschluss der hauptsächlichen Auszahlungen aus Zinsen der Stiftung ein kleiner Geldbetrag ausgezahlt werden.

Ein zu den Örtlichkeiten befragter österreichischer Historiker hat herausgefunden: “In passender Entfernung von Bratislava gibt es Untersiebenbrunn im Bezirk Gänserndorf, das sollte es sein”.

Abrechnung und Belohnung

Der Große Vaterländische Krieg und die Schicksale der Menschen in dieser Zeit hängen eng zusammen. Die einen zogen am ersten Tag des Krieges in den Kampf, andere wurden zusammen mit ihren Betrieben ins Hinterland verlegt, um dort Stahl und Panzerungen für den zukünftigen Sieg zu schmieden, andere trieben ihr Vieh möglichst weit weg von der Front und wer im besetzten Gebiet verblieb, erlebte unvorstellbar schwere Zeiten: Angst um die Nächsten, Hunger, Verschleppung in deutsche Lager oder zur Arbeit.

Nina N. erinnert sich bis heute mit Zittern und Beben an die Geschichte ihrer Eltern:

Als der Krieg begann, lebten meine Eltern im Dorf Poltavka im Bezirk Guljajpol’sk des Gebiets Saporoschje. Meine Mutter hatte gerade die 7. Klasse beendet und war noch nicht 16. Und der Vater war knapp 18. Sie mochten sich. Und alles wäre für sie ganz anders gekommen, hätte es nicht Krieg gegeben. So aber gerieten sie in Gefangenschaft und wurden zur Arbeit nach Österreich verschleppt, in das Dorf Unterreinbrunn, Kreis Kansdorf, 18 km entfernt von Bratislava. Ihre Hausherren erwiesen sich als ordentliche und gute Menschen, die Mitgefühl für die Sowjetmenschen zeigten und ihnen nichts zuleide taten, sondern ihnen halfen, so gut sie konnten. Und das war nicht erstaunlich: Sie hassten diesen Krieg von Herzen, weil ihr Sohn gezwungen wurde, für den Führer zu kämpfen, und bei Stalingrad gefallen war.

Mihail und Katja gefielen ihnen. Sie machten widerspruchslos und gut jede Arbeit. Mihail hatten sie liebgewonnen wie ihren eigenen Sohn und hatten nichts dagegen, als er die Erlaubnis erbat, Katja zu heiraten. So wurde im weit entfernten Österreich die Familie Z. gegründet. Dort wurde ich am 28. März 1944 geboren. Die Hausherren meiner Eltern halfen mir zu überleben, sie gaben sich Mühe, Mama gut zu ernähren, damit sie Milch hätte, die Hausherrin hütete mich sogar ein paar Stunden am Tag, damit Mama sich ausruhen konnte! Das zeugt davon, dass die einfachen Leute oft eine gemeinsame Sprache fanden, sich gegenseitig halfen. Sie brauchten den Krieg nicht, er tötete nicht das Gute in ihnen ab. 

Bei der Abreise nach Hause 1945 gaben sie ihnen einen Wagen, Essen und Kleidung mit. Unterwegs wurden sie bombardiert. Das war im April 1945. Meinen Vater und alle Männer steckten sie in ein Strafbataillon der Roten Armee und schickten sie sofort in den Kampf. Frauen und Kinder mussten sich zum Bahnhof begeben, wo sie in Güterwagen Richtung Heimat gepackt wurden. Von meiner Mutter erfuhr ich, dass die Hausherrin bei dem Bombardement verletzt wurde und kurz darauf starb.

Wie kämpften die Strafbataillone? Sie wurden zu Kanonenfutter für die Hitler-Soldaten. Sie hatten keine militärische Ausbildung, viele von ihnen kamen sofort ums Leben oder nach ein paar Stunden. So starb mein Vater einen Monat vor dem Sieg. Es war auch nicht leicht für die, die bis in die Heimat gelangten. Es gab keine Lebensmittel. An den Haltestellen blieben einige Frauen bei den Kinderchen, andere gingen los, um Milch, Brot und alles Mögliche zu finden. Viele Kinder waren krank und starben.

Als wir durch Moldawien fuhren, bekam ich eine Mundschleimhautentzündung. Während eines längeren Aufenthalts fand meine Mutter eine Ärztin, aber die sagte, sie würde nur gegen Bezahlung eine Tinktur machen. Mama kam zurück, griff etwas von unseren Sachen und machte sich auf den Weg zur rettenden Medizin.

Zwei Monate waren wir auf dem Weg in die Ukraine. Nur 9000 Kinder blieben am Leben, darunter ich, und viele wurden später krank und starben. Das ging nicht spurlos vorüber. Im Alter zwischen 3 und 9 Jahren hatte ich Tuberkulose an der Wirbelsäule. Bis heute erinnere ich mich an die Verbände, Medikamente, Krankenhäuser. Aber Gott sei Dank überlebte ich dank der Ärzte, der Naturheilmittel und der Geduld meiner Mutter Ekaterina Fjodorowna.

Mama und ich kehrten in ihre geliebte Heimat zurück. Meine Großmutter war oft krank. Mama ging in die Kolchose arbeiten. Als Spitzenarbeiterin wurde sie nach Melitopol in die Landwirtschaftsschule geschickt, danach arbeitete sie als Agronomin.

Noch etwas: Alle, die in Gefangenschaft waren, und ihre Kinder wurden schief angeguckt. Die Männer, die heil geblieben waren, mussten eine Strafe absitzen. Weil sie das wusste, beließ meine Mutter mein Geburtsdatum, nannte aber als Geburtsort ihr Heimatdorf. Das verhalf mir dazu, die Schule und danach die historisch-philologische Fakultät der Universität von Dnepropetrowsk erfolgreich abzuschließen. Meine Mutter und ich sprachen oft über den Vater und über den Krieg. Für viele Jahre erzählte ich niemandem die Wahrheit.

Als man begann, über die Stiftung „Versöhnung“ zu sprechen, zwang mich meine Mutter zum Ausfüllen der entsprechenden Dokumente. Damit habe ich 3 Jahre zugebracht. Jedes Mal, wenn ich nicht weiterkam, wollte ich aufgeben, machte dann aber doch weiter mit meiner Suche. Ich schickte eine Anfrage nach Österreich und erhielt eine Bestätigung meiner dortigen Geburt. Bei der Militärverwaltung erhielt ich eine Bescheinigung als Teilnehmerin an Kampfhandlungen. Weil unsere Regierung dankenswerter Weise die Schicksale dieser Kriegskinder, wie ich eines bin, richtig behandelt, bekomme ich eine erhöhte Pension und bin privilegiert bei der Wohnungsmiete, Sanatoriums-Aufenthalten, der kostenlosen Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel. Kurz gesagt spüre ich, dass man sich um mich sorgt. Für mich ist das sehr wichtig, weil mein Mann vor 9 Jahren starb. Früher war er, Wasilij Iwanowitsch N., Mechaniker im Lastkraftbetrieb. Das Leben ist heute nicht leicht, aber die genannten Privilegien retten mich.

P.S. N.M. lebt und arbeitet seit 1972 in unserer Stadt, die für sie zur Heimat wurde. 35 Jahre widmete sie der Erziehung der jungen Generation in der Internats-Schule Nr. 1, und in zwei Spezialschulen, Nr. 7 und Nr. 12. Die umtriebige Frau zog zwei wunderbare Töchter groß (Namen und Berufe) und hat 5 Enkel. Bis heute arbeitet sie als Wachperson in einer Apotheke, Ihre Blumenbeete erfreuen die Augen aller hier.

Ljudmila Yu.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt