Alwian Wiktorowitsch Ch. – Freitagsbrief Nr. 56

Ukraine, Kiew

11.12.2017

Liebe Freunde in Deutschland! Ich danke Ihnen von Herzen, dass Sie die Erinnerung an den Holocaust aufrechterhalten, für Ihre Aufmerksamkeit den Menschen gegenüber, die jener riesigen und ungeheuren Tragödie zum Opfer gefallen sind, und für die moralische und materielle Hilfe, die Sie diesen Menschen zukommen lassen.

Wie alle, die vom Holocaust betroffen waren, hat auch meine Familie Schreckliches erlebt. Ein Teil (acht Menschen) sind an der Front gefallen, andere sind in besetzten Gebieten gestorben. Einige wenige, einschließlich mir und meiner Familie, haben trotz harter Prüfungen überlebt. Die Erinnerungen daran sind schwer und schmerzhaft…

Leider konnten der Antisemitismus und der faschistische Nazismus bis zum heutigen Tage nicht ausgerottet werden und werden in einer Reihe von Ländern wieder sichtbar, darunter auch in Westeuropa. Deutschland ist da keine Ausnahme. …

Im Juni 1941, als die deutschen Truppen heimtückisch mein Heimatland überfielen, war ich nicht ganz vier Jahre alt. Obgleich ich die unten geschilderten Ereignisse unmittelbar miterlebt habe, habe ich sie erst als Jugendlicher in allen Details begreifen können – aus den Erzählungen der älteren Familienmitglieder und später, im Erwachsenenalter, mithilfe von Treffen mit den edlen und mutigen Menschen, die uns damals das Leben gerettet haben.

Der Beginn der Kriegshandlungen des nationalsozialistischen Deutschland auf dem Gebiet der UdSSR ereilte unsere Familie in der Stadt Klessow, Oblast Rowno. Mein Vater – ein Offizier der Sowjetarmee – war in der Nacht zum 22. Juni 1941 in seiner Einheit im Dienst und kam nicht mehr nach Hause zurück. Am 24. Juni wurde unser Haus bei einem deutschen Luftangriff durch eine Bombe zerstört. Meine Mutter und wir vier Kinder – mein ältester Bruder war 13, die jüngste Schwester 2,5 Monate – haben nur überlebt, weil wir uns bei Beginn des Angriffs in dem tiefen Erdbunker ganz hinten im Garten versteckt hatten. Unsere betagte Großmutter mütterlicherseits, Rajsberg Brucha Zeligkowna, hielt sich zu diesem Zeitpunkt im Dorf Polonnoje der Oblast Chmelnizkij auf. Im Wissen, dass der jüdischen Familie eines Frontkämpfers und Offiziers der Sowjetarmee im besetzten Gebiet der Tod drohte, sah sich meine Mutter gezwungen, in Richtung Osten zu fliehen, doch zuvor musste sie ihre Mutter aus Polonnoje holen, was sich als schwierige und lebensgefährliche Aufgabe herausstellte.

Mit leeren Händen – alle unsere Habseligkeiten waren zusammen mit dem Haus zerstört worden – zog unsere Mutter mit uns Kindern, meist nachts, durch Wälder und Felder, in Richtung Polonnoje. Tags hielten wir uns im Gehölz in Wassernähe versteckt. Die Menschen in den Dörfern versorgten uns mit Essen, Kleidung und Stofffetzen zum Wickeln, halfen meiner Mutter, das Baby zu waschen und die Windeln zu wechseln. Damals zeigten viele Menschen Mitleid und Hilfsbereitschaft, im Bewusstsein der großen gemeinsamen Tragödie und der Verachtung dem Feind gegenüber, der unser Land hinterhältig überfallen hatte.

Die deutschen Flieger warfen Bomben ab, über Straßen, Eisenbahnlinien und Bahnhöfen. Erschossen mit besonderem Sadismus auf Feldern und Straßen Menschen, die sich vor der schnell näher kommenden Gefahr zu retten versuchten. Das Dröhnen der Triebwerke, das Pfeifen der fallenden Bomben, das Geräusch der Gewehrsalven, die die Flieger in die auseinander stiebenden Menschen abfeuerten, das Schreien der Verwundeten und Weinen über den Körpern der Toten nach den Luftangriffen, das Gefühl der eigenen Ohnmacht vor der Armada der bis auf die Zähne bewaffneten deutschen Truppen, die über uns hergefallen sind – das alles sehe ich immer noch regelmäßig im Traum vor mir. Während ich dies für Sie aufschreibe, durchlebe ich jene schrecklichen Ereignisse von vor 76 Jahren noch einmal.

Wir schafften es nicht nach Polonnoje, bevor die deutschen Truppen es am 5. Juli okkupierten. Meine kleine drei Monate alte Schwester erkrankte aufgrund der schlechten Ernährung und der Unterkühlung. Wir blieben im Dorf Poninka hängen, das ebenfalls schon okkupiert war. Eine Frau nahm uns bei sich zu Hause auf, Jekaterina Shmak, sie stellte uns allen als Verwandte vor – Flüchtlinge, die ihr Haus und ihre Papiere in Klessow verloren hätten. Zu unserem Glück konnte man von unserem Äußeren nicht auf unsere Nationalität schließen. Meine Mutter und meine beiden älteren Geschwister halfen Jekaterina Shmak im Haushalt, wir lebten zusammen wie eine Familie. Wahrscheinlich ließen uns die deutschen Soldaten und die Polizai aus diesem Grund zunächst in Ruhe – sie glaubten ihren Worten. Zusammen mit ihrer Freundin Ljudmila Wojnarowskaja half Jekaterina Shmak meiner Mutter, meine kleine Schwester mithilfe von Kräuteraufgüssen gesund zu pflegen. Beide teilten ihr Essen und ihre Kleidung mit uns.

Als man anfing, Dorfbewohner und Flüchtlinge neu zu registrieren und nach Angehörigen der Roten Armee und Menschen jüdischer Nationalität zu suchen, versteckten Jekaterina Shmak und Ljudmila Wojnarowskaja uns abwechselnd in ihren Kellern, um uns und ihre Familien nicht in Gefahr zu bringen. Als die Polizai auf unser Verschwinden aufmerksam wurden, erzählte Jekaterina Shmak, dass uns ein anderer gemeinsamer Verwandter in seinem größeren Haus in Polonnoje aufgenommen hätte.

Von dem einen Keller in den anderen wechselten wir nachts. Damit das Baby uns nicht verriet und zwischen den Mahlzeiten schlief, bekam es gesüßten Kräutertee zu trinken. Als meine kleine Schwester Anfang August endlich gesund wurde, ging unsere Mutter nachts zu Fuß nach Polonnoje, was mehrere Tagesmärsche entfernt lag, um nach unserer Großmutter zu sehen und sie mitzunehmen, falls sie überhaupt noch am Leben wäre. Zum Glück war sie es. Als die Deutschen im Dorf einfielen, versteckte sie die Tochter ihrer Nachbarin in ihrem Keller, womit sie ihr eigenes Leben riskierte. Sie kannte den entschlossenen Charakter meiner Mutter und hoffte, dass diese einen Weg finden würde, unsere 65-jährige Großmutter zu holen. Und sie behielt Recht. Genau wie unsere Mutter war auch Großmutter eine wohlerzogene, umgängliche Frau, die schnell Freundschaften schloss und dadurch immer auf Hilfsbereitschaft zählen konnte. Das hat unserer Familie in vielen schwierigen Momenten das Leben gerettet.

Nach zwei Tagen kehrte meine Mutter gemeinsam mit meiner Großmutter zurück nach Poninka, wo uns allen eine erneute Prüfung bevorstand. Aus einem temporären Gefangenenlager war eine Gruppe sowjetischer Kriegsgefangener geflohen. Man durchsuchte die am Lager angrenzenden Dörfer nach ihnen. Als man in einem Teil von Poninka Juden und Kriegsgefangene in einem Versteck entdeckte, wurden sie alle erschossen, zusammen mit den Familien, die sie versteckt hatten. Aber wir überlebten wieder einmal durch ein Wunder: Nachdem die Bestrafter gut gegessen und getrunken hatten, entspannten sie sich und verschoben die weitere Suche auf den nächsten Tag. In dieser Nacht brachte uns Ljudmila Wojnarowskaja in ein Sumpfgebiet im Wald, wo eine alte Jagdhütte stand. Es gab einen Holzboden und Liegen, eine Axt, Schaufeln, einen Topf und einen Eimer sowie einen kleinen Metallofen mit Holzvorrat – ein großer Schatz in der damaligen Situation.

Völlig verängstigt, hungrig und frierend, verhielten wir uns vorsichtig und versuchten mit aller Kraft zu verbergen, dass da jemand in der Hütte war. Den Ofen heizten wir nur nachts, damit man den Rauch nicht sah, die Windeln trockneten wir drinnen, am Ofen. Wir gingen nur nach draußen, wenn wir sicher waren, dass niemand in der Nähe war. Oft erkälteten wir uns und wurden krank, unsere Mutter behandelte uns mit Kräutern, die ihr Jekaterina Shmak und Ljudmila Wojnarowskaja gegeben hatten. Wir lernten, selbst solche Kräuter zu sammeln und zu trocknen, und auch Beeren und Pilze. In den drei Monaten, die wir in dieser Hütte verbrachten, konnte Ljudmila Wojnarowskaja uns nur zwei Mal unter Lebensgefahr Nahrungsmittel, Streichhölzer und Kerosin für die Lampe bringen. Deshalb sammelten meine Mutter, mein Bruder und meine Schwester (13 und 10) Gemüse, das die Menschen auf den umliegenden Feldern vergessen hatten. Auf den Straßen fanden sie zwischen den liegengebliebenen menschlichen Überresten und ihren überall verstreuten Habseligkeiten brauchbare Dinge. So überlebten wir dreieinhalb Monate in der Jagdhütte.

Als mein Bruder im November 1941 einen Polizai sah, der auf seinem Fahrrad eilig einen Weg unweit der Hütte entlangfuhr, beschlossen meine Mutter und meine Großmutter, obwohl der Polizai uns nicht bemerkt hatte, dass wir die Hütte verlassen müssten. Meine Mutter und mein Bruder machten eine abgelegene Stelle ausfindig, die gut versteckt im Gebüsch am anderen Ende des Waldes lag, direkt am Sumpf, wo es nicht einmal Trampelpfade gab. Wir brauchten einige Tage, bis wir eine Erdhütte gegraben hatten, in etwa wie den Erdbunker zu Hause in Klessow. Aus der Jagdhütte trugen wir einen Teil der Bretter und die Liegen herüber, den Ofen, unsere restlichen Sachen, das gesammelte Gemüse, die Beeren und die Kräuter.

Hier versteckten wir uns bis Ende 1942, ebenfalls in großer Not. Wegen der unhygienischen Bedingungen in unserer kalten und feuchten Erdhütte und weil wir nicht abgekochtes Wasser tranken, wurden wir alle oft von Erkältungen und Magen-Darm-Krankheiten geplagt. Ohne Medikamente dauerte es jedes Mal sehr lange, bis wir uns, nur mithilfe der Kräuter, kuriert hatten. Deswegen gingen viele der Beschwerden, vor allem bei unserer Mutter und Großmutter, in chronische Krankheiten über. Meiner kleinen Schwester wuchs aufgrund der Mangelernährung und des Vitaminmangels im Alter von zehn Monaten ein Buckel, was meiner Mutter und Großmutter sehr zu schaffen machte. Wir Kinder konnten das Grauen unserer ganzen Lage damals noch nicht in vollem Umfang begreifen.

Wenn ich mich jetzt daran erinnere, kann ich nicht erklären, woher wir damals die Kraft, die Geduld und den Einfallsreichtum hatten, nicht nur meine Mutter und Großmutter, sondern auch wir Kinder, die wir unter diesen unmenschlichen Bedingungen und Lebensgefahr schnell erwachsen wurden. Meine Mutter war sehr sensibel, sie träumte oft Dinge, die dann auch eintrafen. Zweimal im Frühjahr und Sommer 1942 rannte sie mit meinem Bruder los, um mich zu suchen, sagte immer wieder, mir wäre etwas zugestoßen und sie müssten mich retten. Weil wir so wenig zu essen hatten, aß ich oft Kräuter und Beeren, die mir wohlschmeckend erschienen, und vergiftete mich daran. Dank ihrer Intuition fand meine Mutter mich und rettete mich. Vielleicht war es auch diese Gabe, die ihr sagte, dass unsere Leiden ein Ende finden würden, und das gab ihr wiederum die Kraft, sich selbst und uns alle noch in den hoffnungslosesten Situationen aufzumuntern, die Hoffnung zu hegen, dass wir überleben und der Krieg bald vorbei sein würde, die Deutschen aus unserem Land verschwinden und unser Vater von der Front zu uns zurückkehrt.

Anfang 1943 fand uns eine Gruppe Partisanen, die sich durch den Sumpf auf dem Rückzug befand, nachdem sie einen feindlichen Zug mit Kriegstechnik vernichtet hatte. Sie wurden von einem deutschen Strafbataillon verfolgt. Wieder musste sich unsere Familie in Sicherheit bringen, und so gingen wir mit den Partisanen durch den Sumpf in die Wälder der Rowenschtschina, an der Grenze zu Belarus. Im Partisanenstützpunkt halfen meine Mutter, Großmutter und die älteren Geschwister viel mit – machten Essen, wuschen Wäsche und viele andere Dinge. Weil die Partisanen den die Besatzern spürbare Verluste zufügten, machten diese systematisch Jagd auf sie. Unsere Familie musste alle Strapazen ihres Kriegerdaseins mitmachen, die tägliche Lebensgefahr, die ständigen Ortswechsel, die Artilleriebeschüsse und Bombardierungen.

Nach der Vertreibung der nationalsozialistischen Okkupanten von ukrainischem Boden bekam mein großer Bruder eine Stelle im Komsomolkomitee der Stadt Korosten in der Oblast Shitomir, wohin er bald auch die Familie nachholte. Auf den Rat einer Kräuterheilerin hin rieb meine Großmutter ein halbes Jahr lang mehrmals täglich geduldig den Buckel meiner kleinen Schwester mit Milch ein. Nach einer Weile begann er langsam kleiner zu werden und verschwand. Das versetzte die Ärzte in Erstaunen, denn sie hielten diese Krankheit für unheilbar.

Trotz einiger Verletzungen und Schädelprellungen überlebte auch mein Vater, der sich bei Kriegsende in Prag befand. Von dort aus wurde er nach Lwow versetzt, wohin er auch seine Familie holte, nachdem er sie gefunden hatte. Weil manche Partei- und Staatsbedienstete nach dem Krieg der Ansicht waren, sowjetische Bürger, die sich in deutsch besetzten Gebieten aufgehalten hatten, seien verdächtig, wurden meine Mutter und meine Großmutter einer Überprüfung durch die Spezialorgane unterzogen. Daraufhin wurde meine Mutter Rojsberg Sarra Naumowna 1946 für ihre aktive und aufopfernde Unterstützung der Partisanen im feindlich besetzen Gebiet ausgezeichnet, mit der Medaille „Für den Sieg über Deutschland im Großen Vaterländischen Krieg 1941–1945“.

Die extrem harten Lebensbedingungen, die systematische stressbedingte Anspannung aller Nerven, die Mangelernährung und Unterkühlung, die häufigen Krankheiten und als Folge davon viele chronische Leiden haben die Gesundheit unserer ganzen Familien sehr geschwächt, nach dem Krieg waren wir oft und lange krank. Anfang 1951, nach langer und schwerer Krankheit, verstarb meine Großmutter, und 1956, ebenfalls nach langer und schwerer Krankheit, meine mutige und selbstlose Mutter, die unter extrem harten Bedingungen quasi unsere ganze Familie gerettet hat. Auch mein Vater, der vier Jahre lang nichts über das Schicksal seiner Familie gewusst und sehr darunter gelitten hat, ist nicht mehr am Leben. Von meinen Geschwistern bin nur noch ich da, nach vielen Krankheiten und einigen Operationen ein Invalide, der auch jetzt schwer krank ist.

Bei einem Treffen mit Jekaterina Shmak und Ljudmila Wojnarowskaja nach dem Krieg hat mein Vater sich bei ihnen für die Rettung unserer Familie bedankt und ihnen wertvolle Geschenke überreicht. Ljudmila Wojnarowskaja hat erzählt, dass sie Anfang 1942 noch ein drittes Mal bei der Jagdhütte war, in die sie uns im August 1941 gebracht hatte, und als sie uns dort nicht vorfand, dachten die beiden, wir wären den Polizai in die Hände gefallen, oder deutschen Soldaten, die Strafaktionen gegen die Partisanen durchführten. Sie dachten, wir wären tot.

Für ihre Menschlichkeit, ihre Nächstenliebe und den Mut, den sie bewiesen, indem sie unsere Familie während der Zeit der Besatzung retteten, die uns eine Zuflucht gewährt, alles mit uns geteilt haben, was sie besaßen, uns gepflegt und dabei selbst systematisch in Angst und unter ständiger Lebensgefahr für sich und ihre Kinder gelebt haben, dafür wurde Jekaterina Shmak und Ljudmila Wojnarowskaja auf Beschluss des Jüdischen Fonds der Ukraine der Ehrentitel „Gerechte der Ukraine“ verliehen.

Mit den allerbesten Wünschen für Sie, unsere lieben deutschen Freunde.

11. Dezember 2017

Aus dem Russischen von Jennie Seitz