Yuriy Viktorovych P. – Freitagsbrief Nr. 165

Dnipro, Ukraine

Meine sehr geehrten Damen und Herren von Kontakte-Контакты, deutsche Staatsbürger,

ich schreibe Ihnen diesen Brief in Beantwortung Ihrer Anfrage und mit großem Respekt. Ich möchte Ihnen nun über die wahre Geschichte, die mir meine Mutter über ihre Zeit in Deutschland während des Krieges erzählt hatte, berichten. Meine Mutter, K. Galyna Vasylivna, war unmittelbar vor dem Krieg 1941 dabei, einen Lehrerberuf in der Stadt Shytomyr zu erlernen. Meinen zukünftigen Vater hatte sie an einem Tanzabend in einem Kulturhaus für Offiziere kennen gelernt. Als der Krieg dann am 22. Juni 1941 ausgebrochen war, fuhr meine Mama nach Hause, in ihr Dorf K., Kreis Popilnja, und mein zukünftiger Papa musste in den Krieg. Zu Kriegsbeginn 1941 geriet er dann in Gefangenschaft. Anfangs hatten die deutschen Kommandeure ukrainische Kriegsgefangene nach Hause gehen lassen, vorausgesetzt, diese gingen nachts, weil sie am Tage von der Polizei verhaftet werden konnten. Mein zukünftiger Papa zusammen mit seinem Kameraden kam so in das Dorf meiner Mutter. Meine Eltern hatten dann nach der Heirat bei der Dorfgemeinde in der (dortigen) Kolchose gearbeitet. Unter dem Deutschen wurden Kolchosen ja nicht abgeschafft, sondern sie bestanden fort wie es auch vorher in der Sowjetunion war. Nachdem die deutschen Truppen in unser Dorf K. einmarschierten, wurden alle Kommunisten erschossen. Im Frühjahr 1942 begannen dann die Deutschen, ukrainische junge Frauen und Männer nach Deutschland zur Zwangsarbeit zu schicken. Mein Vater und eine Schwester meiner Mutter, die Pascha, mussten mitkommen. Aber dadurch, dass Pascha an Tuberkulose erkrankt war, wurde ersatzweise meine Mutter einbezogen, obwohl sie bereits mit mir schwanger war (deshalb wollten sie meine Mutter ursprünglich ja nicht abtransportieren). Mein Papa und meine Mama wurden also zum Bahnhof nach Breslau gebracht, alle wurden aufgestellt und deutsche Frauen und Männer konnten sich nun ihre Arbeitskräfte aussuchen. Dabei wurde sogar auf die Zähne der Zwangsarbeiter geschaut, man wurde körperlich in Augenschein genommen etc.

Meine Eltern wurden von einer (deutschen) Familie, die unweit auf einem Dorf bei Breslau wohnte, aufgenommen. Sie hatten Glück, gerade von dieser Familie ausgesucht worden zu sein. Die Familie misshandelte meine Eltern nicht und alle haben an einem Tisch beim Essen zusammen gesessen. Diese Familie war nicht gerade wohlhabend. Meine Mutter musste auf dem Feld arbeiteten, indem sie den Acker von Steinen, die ab und zu auftauchten, befreite. Einmal war meiner Mama in einer deutschen Zeitung (sie verstand ein wenig Deutsch) aufgefallen, dass da ein sowjetischer Milizmann dargestellt war, wie er einem Kind sein Brot wegnahm und das Kind dabei mit den Füßen in die Brust trat. Meine Mama sagte dann, dass so etwas vor dem Krieg nie gegeben hatte, weil die eigenen Eltern für Misshandlungen ihrer Kinder bestraft wurden. Am nächsten Abend kamen dann Verwandte der Herrenfamilie, zwei Frauen und zwei Männer in Begleitung eines Dolmetschers, der aus der Westukraine stammte. Meine Mama wurde ins Haus gebeten und aufgefordert, über das Leben in der Sowjetunion zu erzählen. Darauf antwortete meine Mama, sie würde nicht davon erzählen wollen, denn sie würde dafür bestraft werden. Alle, die dabei waren, hatten geschworen und sich dabei bekreuzigt, keinem was davon zu erzählen, es hieß, alles wäre gut. Zu Beginn ihrer Erzählung wurde sie gefragt, warum sie, ihr Mann und die anderen Ukrainer dreckig und barfuß nach Deutschland gekommen seien. Meine Mutter antwortete darauf, dass es so befohlen worden war, sich für unterwegs möglichst schlechter anzukleiden, denn die alten Kleider sowieso verbrannt werden würden. Es hieß, die Ukrainer würden in Deutschland europäische Kleidung bekommen, aber dem war nicht so, es wurden keine anderen Kleider zum Wechsel angeboten. Dann wurde meine Mama gefragt, warum sowjetische Kriegsgefangene zerfetzt, nackend und barfuß durch die Gegend liefen, während englische Kriegsgefangene in Uniformmänteln und guten Schuhen herumstolzierten. Darauf sagte meine Mutter, dass sowjetische Soldaten Wollmäntel und Stiefel aus reinem Leder hatten und die ganze Kleidung und Schuhe dann verarbeitet wurden. Schuhe englischer Soldaten dagegen waren mit Holz besohlt und ihre Mäntel waren aus Mischfasern. Danach wurde meine Mama gefragt, wie das Leben in der Sowjetunion so war. Sie berichtete, dass ihre Eltern vor 1932 ein eigenes Stück Land und eine eigene Mühle, eigene Arbeitsmittel und einige Rinder besaßen und für sich gewirtschaftet hatten. Ihre Familie bestand aus 11 Menschen und keiner musste hungern. 1932 wurde dann mit der Kollektivierung begonnen und den Menschen wurde alles weggenommen und ihr ganzes Hab und Gut wurde an die Kolchosen übergeben. Die Menschen mussten dann in den Kolchosen für ihre Tagessätze arbeiten. Was war ein Tagessatz? Wenn einer einen Tag gearbeitet hatte, wurde ihm ein Tagessatz angerechnet. Bei Maschinenschlossern war es dagegen anders – für einen Arbeitstag bekamen sie 3 bis 5 Tagessätze angerechnet. Am Jahresende bekamen die Menschen dann immer noch kein Geld, sondern Getreide, so und so viele Gramm pro Tagessatz. Bis 1960 wurde ihnen kein Geld gezahlt. Gegen derartige Kollektivierung hatten die Menschen protestiert. Dann wurde auf Befehl der Machthaber von Stalin den Bauern alles halt weggenommen: Getreide und was sie sonst noch erwirtschaftet hatten, so dass eine Hungersnot in der ganzen Ukraine ausbrach und es sogar Kannibalismus gab (Menschen aßen andere Menschen). Meine Schwiegermutter Maria Jakivna hatte überlebt, sie wurde nicht ermordet, weil sie vorher von einer Freundin besucht wurde, so dass eben die Freundin dem Kannibalismus zum Opfer fiel. Von der schlimmsten Hungernot aber waren die Regionen um Donetzk, Lugansk und Charkiv betroffen  –  dort starben ganze Dörfer aus. Die Menschen durften ihre Wohngegenden auch nicht verlassen, sie waren also durch die Miliz in ihren Dörfern regelrecht eingesperrt. So mussten 1933 meine Tante Olga, 12, und mein Onkel Vassyl, 13, verhungern. Die ausgestorbenen Dörfer wurden dann mit Menschen aus der ganzen Sowjetunion neu besiedelt, diese wurden in den Häusern der Verhungerten untergebracht. Diese Menschen konnten kein Ukrainisch. Dennoch wird nun Putin und Russland von ihren Nachkommen angehimmelt. Die Ukraine und die ukrainische Sprache werden von diesen Menschen gehasst. Meine Mama hatte erzählt, vor dem Krieg ließ Stalin die Menschen zwar noch ein wenig leben, aber alles (Milch, Eier, Geflügel, Obstbäume, Vieh etc.) wurde besteuert. Wenn man beispielsweise die Haut eines geschlachteten Jungschweins aus eigener Wirtschaft nicht abgegeben hatte, gab es dafür eine Haftstrafe. Der Heilpraktiker der Sowjetunion Nummer 1, Vasylenko Viktor Mykolajovytsch, hat mir mal erzählt, dass es genau der Fall mit seinem Vater gewesen ist, dass dieser dann genau deswegen eingesperrt wurde. Seine Mutter konnte noch mit einer Tochter zusammen gerade so fliehen – und sein Vater hatte die beiden seitdem nie wieder gesehen. Aber zurück zu meiner Mutter. Als die Zeit meiner Geburt gekommen war, wurde sie ins Gefangenenlager nach Breslau geschickt. Dort befanden sich Frauen und Männer aus der ganzen Welt. Einmal ging eine ältere Polin auf meine Mutter zu und gab ihr ein Bündel mit Babybekleidung, meine Mutter aber durfte keinem was davon erzählen. Dann kam ein deutscher Mann auf meine Mama zu und teilte ihr mit, dass sie, wenn die Wehen einsetzten, in eine Geburtsklinik gebracht werden würde. Nach der Geburt bekäme sie dann ein zusätzliches Brot. Ich bin also dann in dieser Geburtsklinik auf die Welt gekommen. Direkt neben meiner Mutter waren noch eine westukrainische Frau auf der Station und auch deutsche Frauen, die von (deutschen) Militärmännern besucht und mit Schokolade verwöhnt wurden. Deutsche Frauen gaben aber einen Teil davon an unsere Frauen ab. Die deutschen Ärzte wollten, dass meine Mama mich an sie abgab, aber sie hat das zurückgewiesen. Mit Gewalt wurden Babys also nicht weggenommen. Dann wurde meine Mama ins Lager zurück geschickt und später in die Ukraine abtransportiert. Meine Mutter konnte nicht nachvollziehen, warum sie damals so behandelt wurde im Gegensatz zu den anderen Frauen, die nach der Geburt dort bleiben durften. Im August 1942 wurde sie also – wie auch viele andere Frauen mit ihren Babys, die in der Geburtsklinik auf die Welt kamen – in die Ukraine abtransportiert. Meine Mutter hatte mir erzählt, dass, als sie bereits auf dem Weg in die Ukraine war, warfen einige Mütter ihre Babys aus den Waggons. Es war schrecklich, aber wahr. Mein Papa war bis zum Kriegsende noch in Deutschland. Wo er aber abgeblieben war (war er gefallen?), ist mir nicht bekannt. Der Abtransport ukrainischer Mütter mit ihren Neugeborenen in die Ukraine war der erste, aber auch schon der letzte. Während der Besetzungszeit hatten Bandera-Anhänger einen deutschen Soldat in ihrem Dorf umgebracht. Daraufhin hatten die Deutschen sein Haus verbrannt und einige Bandera-Anhänger ermordet. Neben dem Kolchosen-Standort wurden einige deutsche Soldaten begraben; ob es die Gräber noch gibt, weiß ich nicht. Beim Abzug deutscher Truppen hat ein deutscher Soldat Fahnenflucht begangen. Er hat sich im Dorf hinter der Getreidekammer versteckt. Ukrainische Kleinkinder und Frauen brachten ihm Essen und er weinte so furchtbar. Als sowjetische Truppen das Dorf befreit hatten, wurde der deutsche Soldat gefangen genommen. Beim Abzug deutscher Truppen wollten die Deutschen meiner Mutter die Kuh wegnehmen, aber sie flehte sie an, die Kuh durch einen Jungbullen ersetzen zu dürfen. Dann brachte meine Mama einen Jungbullen aus der Kolchose und gab ihn ab. So war die Kuh unserer Familie erhalten geblieben. Während der Besatzungszeit durch deutsche Truppen gab es weder im Dorf noch in der ganzen Ukraine Hunger. Dafür aber danach, 1947 bereits wieder unter der Sowjetunion, wenn einer ein Kilo Ähren gestohlen hatte, bekam dieser 10 Jahre Haftstrafe. So war es also nach dem Krieg. Nachdem der Krieg zu Ende war und die Dorfleute zurückkehrten, hatten sie meiner Mutter erklärt, warum man damals im Gefangenenlager so mit ihr umgegangen war. Als meine Mama damals über das Leben in der Sowjetunion erzählt hatte, sprach sie also vor Kommunisten, die ihre Dorfmitbewohner aufforderten, dem Radiosender „Die Stimme Moskaus“ zu folgen.

Nun zu mir. Dieses Jahr werde ich 79. Die Dauer meines Arbeitslebens beläuft sich auf 57 Jahre und 3 Monate. Im Alter von 55 Jahren ging ich wegen einer Berufskrankheit in den Ruhestand. Als Rentner habe ich dann noch weitere 20 Jahre lang gearbeitet. 2017, als ich noch gearbeitet hatte, erlitt ich einen Herzinfarkt. Ich wurde in einem regionalen Kardiologie-Zentrum behandelt, wo dann eine Koronararterienbypass-Operation (mit 3 Stents) durchgeführt werden musste. Für die Behandlung musste ich 5.000 US-Dollar zahlen. Vom Staat hatte ich eben keine Unterstützung bekommen. Oben drauf musste ich noch meinen Aufenthalt im Krankenhaus selbst bezahlen. Zurzeit leide ich auch an Diabetes Mellitus Typ 2. Es wurden 2 Leistenbrüche operiert. Auf dem linken Ohr, das ebenfalls operiert wurde, höre ich nicht mehr. Meine Gallenblase ist aufgestaut und steckt voller Steine. Darüber hinaus habe ich hohen Blutdruck und chronische Bronchitis; auch meine Prostata ist entzündet etc. etc.  Meine Frau P. Lidija Ivanivna ist ebenfalls krank. Auch sie hat eine Koronararterienbypass-Operation (mit 2 Stents) hinter sich. Meine Frau wurde auch frauenärztlich wegen Krebs operiert. Sie hat ebenfalls hohen Blutdruck und wurde an beiden Augen wegen grauem Star operiert. Außerdem leidet sie unter Diabetes Mellitus Typ 2. Die ganzen Behandlungen mussten wir selbst bezahlen.

Mein älterer Sohn Viktor, 49, ist im September 2020 an Coronavirus erkrankt. Wenn man uns Medikamente aus Israel nicht geschickt hätte, hätten wir ihn verlieren können. Auch in dem Fall mussten die Behandlungskosten selbst getragen werden. Der jüngere Sohn Jurij, 45, ist als Generaldirektor des Unternehmens ….. tätig.

Wenn ich früher das deutsche Volk nicht besonders respektiert hatte, weiß ich nun, dass Hitler eben Hitler war. Nun haben wir aber einen zweiten Hitler, den Putin… Putler [so wird Putin im ukrainischen Volksmund bezeichnet – Anm. des Übersetzers]. Er hat den Krieg gegen die Ukraine entfesselt und die Krim und Regionen um Donezk und Lugansk besetzt. Ich schätze Ihre Kultur und Ihren Sport sehr, indem ich an Ihrem Fußballer Müller, der hart arbeitet, sehr hänge. Bitte grüßen Sie ihn persönlich von mir. Wir danken Ihrer Ministerpräsidentin und Kanzlerin Angela Merkel, die den Kampf der Ukraine gegen Russland unterstützt. Ich wünsche dem ganzen deutschen Volk und Ihnen als Kontakte-Контакты persönlich Wohlergehen, Frieden, Gesundheit und auch Erfolg im Kampf gegen Coronavirus. Bitte helfen Sie uns, Coronavirus zu bekämpfen. Ich liebe Sie. Mit vorzüglicher Hochachtung P. Jurij Viktorovych. Sie dürfen meine Erinnerungen in Ihren Zeitungen drucken lassen.

Übersetzung aus dem Ukrainischen: Iryna Berndt