Wera Nikolajewna K. – Freitagsbrief Nr. 159

Belarus, Gebiet Mogiljow

Artikel aus der Zeitung  Junge Seelen

Die Veteranenseite
Nr. 40, S. 3 2. Oktober 2020

KINDER DES KRIEGES

Im Geist stark bleiben

Viele Jahre mögen vergangen sein seit der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges, aber der Schmerz über die Verluste, das Entsetzen und die schwere Nachkriegszeit bleiben als blutende Wunde in den Seelen der Menschen, denen dieses Unglück zugestoßen ist.

Wera Nikolajewna K.  ist ein Kind des Krieges, sie erinnert sich an so gut wie nichts aus diesen schrecklichen Tagen, aber sie hat die Folgen in vollem Umfang gespürt.

Wera Nikolajewna wurde 1940 im Dorf Melnik im Gebiet Belynich geboren.

– Es war ein großes Dorf. 32 Höfe im Wald. Während des Krieges wurde es zweimal in Brand gesetzt. In unserer Familie gab es drei Kinder. Ich bin die Jüngste und habe zwei Brüder.

Wera K. erinnert sich deutlich an die Tränen ihrer Mutter, als diese die Nachricht vom Tod ihres Mannes an der Front erhielt. Aber wo er war und in welchem Jahr er umkam, weiß Wera Nikolajewna immer noch nicht.

– Ich erinnere mich, dass meine Mutter Pfannkuchen buk und Deutsche in unser Haus einbrachen, – fährt Wera Nikolajewna in ihren Erinnerungen fort. Es war noch nicht fertig gebaut, in der zweiten Hälfte fehlten die Deckenbretter. Die Deutschen stachen mit Bajonetten darein, weil sie dachten,  dass sich die Partisanen dort verstecken könnten. Nachdem sie niemanden gefunden hatten, sind sie gegangen, nicht ohne unsere Pfannkuchen in die Schale mit Kartoffelschalen zu schmeißen.

Noch immer kommen Wera Nikolajewna von Zeit zu Zeit Erinnerungen hoch an das Leben im Wald, in Unterständen. Aber mit wem sie dort war, wie lange, und wo ihre Brüder zu dieser Zeit waren, das weiß Wera K. nicht.

– Ich weiß noch, wie man auf uns schoss, – erzählt Wera Nikolajewna. – Alle Bewohner wurden von den Deutschen in unser Haus gejagt, sie wollten es wahrscheinlich anzünden. Rundherum war Wald, dort versteckten sich Partisanen, sie waren es, die uns vor dem unvermeidlichen Tod retteten.

Wera Nikolajewna erfuhr am eigenen Leib die Verheerungen von Hunger, Zerstörung und harter Arbeit. Aber wie man so sagt: Ein Unglück kommt nicht allein. Nach dem Krieg starb die Mutter von Wera Nikolajewna.

Die verwaisten Kinder suchten sich selbst etwas zu essen.

– Unsere Nachbarin, Tante Lida, hatte eine Tochter, Tamara, die etwas jünger war als ich. – sagt Wera Nikolajewna. – Ich habe manchmal nach ihr geschaut. Dafür bekam ich dann eine Schüssel Suppe.

Bald wurden Wera und ihr jüngerer Bruder im Waisenhaus in Mstislaw untergebracht.

– Der ältere Bruder, er war fast volljährig, wurde nicht in ein Waisenhaus geschickt, er blieb zur Arbeit in einer Kolchose. Vor dem Neujahrsfest wurden wir vom Bruder meines Vaters ins Waisenhaus gebracht. Zum Abendessen gab es einen Teller Suppe, in dem man die Körnchen mit der Lupe suchen musste. Es war gut, dass der Onkel noch nicht gegangen war. Er hatte Speck und Brot dabei. Er hat uns gefüttert und den Rest des Essens dagelassen.

Ich muss sechs Klassen im Waisenhaus besucht haben. Dort gab es viele Kinder, die in verschiedene Altersgruppen eingeteilt wurden. Ich erinnere mich gut an meine Erzieherin Wera Prokopjewna.

Bei der Entlassung bekommen wir Herbst- und Wintermäntel und Schuhe.

Der Bruder von Wera Nikolajewna wurde in einen Lehr-Betrieb gesteckt. Nach dem Abschluss ging er nach Leningrad.

Die sechzehnjährige Wera schickte man nach Mogilyow in die Wolodarski-Textilfabrik.

– Sie gaben mir eine Nadel und einen Fingerhut und sagten mir, ich solle etwas mit der Hand stopfen. Ich begann zu nähen, aber mein Fingerhut fiel immer wieder herunter. – erinnert sich Wera K. Die Meisterin sah das und sagte lachend, man müsste mir noch den Fingerhut an den Finger anbinden.

Sechs Monate lang lernte Wera in der Fabrik, dann wurde sie Näherin Vierter Ordnung und arbeitete 27 Jahre in dieser Position.

Für ihre gute Arbeit und die hohen Leistungen im Sozialistischen Wettbewerb erhielt Wera K. Ehrenurkunden und einen Eintrag ins Ehrenbuch der Fabrik. Ihr wurden die Titel „Veteran der Fabrik“ und „Gewinner bei der Sozialistischen Arbeit 1973“ verliehen. 

Aus gesundheitlichen Gründen musste sie den Arbeitsplatz wechseln und arbeitete ab 1983 im Betrieb Nr. 1 „Mogiljowchimwolokno“ für die  Produktion von Synthetikfasern in verschiedenen Abteilungen. Nach zehnjähriger Arbeit in unserer Fabrik ging Wera K. in die wohlverdiente Rente. 

Trotz der großen Zahl von Prüfungen auf ihrem Lebensweg erhielt sich Wera K. ihre Menschlichkeit und Gutmütigkeit. Heute ist sie schon Urgroßmutter und verschenkt all ihre Wärme und Fürsorge an den Urenkel.

Übersetzung Karin Ruppelt