Wasilij Dawidowitsch Lipartija – Freitagsbrief Nr. 118

Russland, Gebiet Rostow

Wasilij Dawidowitsch Lipartija

02.06.2009

Guten Tag, sehr geehrter Dr. Gottfried Eberle, Eberhard Radczuweit und Dmitri Stratievski!

Zu Beginn meines Briefes möchte ich Ihnen für die humanitäre finanzielle Hilfe danken, die ich von Ihrem Verein bekommen habe.

Zweitens danke ich Ihnen für Ihr Interesse an uns ehemaligen Kriegsgefangenen.

Nun zu meiner Person. Ich, Wasilij Dawidowitsch Lipartija, wurde am 23.3.1922 in Schdawa im Bezirk Galskij, Republik Abchasien, geboren. Ich bin Georgier. Ich habe die Schule nach zehn Klassen abgeschlossen und wurde 1941 in Kriegskommissariat berufen, da der Krieg begonnen hatte. Ich kam in die Fliegerschule in Nowypomynsk, dort wurde ich nur zwei Monate ausgebildet, da die Schule von den Deutschen bombardiert wurde. Mit den anderen Offiziersschülern wurde ich in die Infanterieschule in Stawropol´ verlegt. Im Mai 1942 kam ich als Unterleutnant an die Front bei Charkow. Im Juni 1942 wurde ich bei einem Gefecht durch Splitter am Arm und am Kopf verwundet. Durch den sogenannten „Kessel von Charkow“ waren wir eingeschlossen. Mit einer Gruppe von 18 Mann versuchten wir, den Kessel zu durchbrechen, aber während eines Gefechts mit den Deutschen wurde ich verwundet, ich hatte einen Brustdurchschuss und war bewusstlos, wie lange, weiß ich nicht. Als ich wieder zu mir kam, war ich voller Blut, hatte keine Stiefel mehr an den Füßen, mit Mühe stand ich auf und ging barfuß los. Ganz in der Nähe war ein Dorf, dort sah ich eine Frau, die ich um Wasser bat, sie sagte, ich dürfe kein Wasser trinken, dann befeuchtete sie mir Brust und Hals mit Wasser. Die Frau sagte, dass die Deutschen im Dorf seien. Die Deutschen entdeckten mich, aber ich hatte keine Kraft, um fortzulaufen, ich konnte mich kaum auf den Beinen halten. Zwei junge Deutsche kamen auf mich zu, sie schlugen mich nicht, sondern führten mich zu einer Hütte, in der ihr Stab war. Zwei deutsche Offiziere traten aus der Hütte, sie warfen einen Blick auf mich und einer der Offiziere sagte etwas, dann gingen sie zurück in die Hütte zum Essen. Dann kam eine russische Krankenschwester, eine Kriegsgefangene, zu mir, sie schnitt mein Hemd auf und machte mir einen Verband, dann bettete sie mich auf die Erde. So lag ich bis zum nächsten Morgen auf der Erde. Morgens etwa um sieben Uhr fuhr ein Wagen mit zwei Polizisten heran, sie riefen „Steh auf!“ und beschimpften mich, aber ich konnte nicht aufstehen und so hoben sie mich hoch und warfen mich auf den Wagen, auf dem etwas Heu lag. Wir fuhren etwa zwölf Kilometer, wahrscheinlich zur Kreisstadt. Dort brachten sie mich in den Klub, in dem schon einige Verwundete waren, die aber laufen konnten. Danach brachten sie mich in einen Pferdestall, in dem schwer verwundete Soldaten lagen, etwa 300 Personen. Wir wurden von niemandem bewacht, da wir nicht laufen konnten. Meine Wunder infizierte sich und ich hatte Würmer. Zu Essen bekamen wir nichts, nur die Frauen und alten Frauen aus dem Dorf brachten uns manchmal etwas. Nach elf Tagen waren etwa 150 Männer gestorben. Die Kriegsgefangenen, die noch am Leben waren, wurden auf die Straße getrieben, eine weitere Gruppe Kriegsgefangener stieß zu uns und zusammen marschierten wir etwa 80 Kilometer. Wer hinfiel und nicht mehr gehen konnte, wurde an Ort und Stelle erschossen. Wir waren etwa 1000 Mann und sie brachten uns in ein offenes Lager in Proskurow [Stalag 355], das mit Stacheldraht umzäunt war. Dort lagen und saßen wir auf der Erde. Wenn jemand aufstand, schossen die Wachleute von ihrem Wachturm herunter. Ich war dort eine Woche. Dann wurden wir nach Wlodzimier Wolynski [Stalag 365] getrieben, das war ein geschlossenes Lager, in dem wir in Baracken lebten. Dort war ich zwei Monate. Dann brachten sie uns nach Polen in die Stadt Schotakowa [Tschenstochau Stalag 367]. Dort war es sehr hart. Wir bekamen 333 Gramm Brot und zweimal am Tag Balanda mit Kartoffelschalen. Von 30000 Kriegsgefangenen sind etwa die Hälfte an Hunger und Kälte gestorben. Ich war dort bis 1943. Dann wurde ich nach Deutschland gebracht, nach Stuttgart, wo ich in der Schillerschule Nr. 2030 oder 3020 war, genau weiß ich das nicht mehr. Meine Lagernummer war 28880. Dort war ich bis 1945. Wir wurden zu Schwerstarbeit gezwungen, mussten Zement oder Sand ausladen, arbeiteten in der Kanalisation, räumten die Straßen und die Straßenbahnschienen nach den Bombenangriffen der Amerikaner usw. Wir arbeiteten von früh bis spät. Die Deutschen behandelten uns Kriegsgefangene schlecht und schikanierten uns, für sie waren wir keine Menschen.

Befreit wurden wir von den Amerikanern. Zwei Monate später, im August, wurden wir in den Zug gesetzt und nach Ufa gebracht, in ein Filtrationslager, in dem überprüft wurde, wie ich in Gefangenschaft geraten war. 1946 kam die Anordnung, alle diejenigen, die bereits überprüft worden waren, nach Hause zu entlassen. Ich fuhr nach Hause und arbeitete bis 1948 in der Kolchose. 1948 bekam ich eine Stelle in einer Teefabrik an, erst war ich Facharbeiter, dann Werksleiter. 1982 bin ich in Rente gegangen. Ich habe gut gelebt, in Abchasien, aber dann kam es zwischen Georgien und Abchasien zum Konflikt und ich bin mit meiner Familie nach Russland umgezogen, wo ich auch heute lebe. Meine Frau ist gestorben, aber ich habe drei Töchter und einen Sohn, eine Enkelin und einen Enkel.

Ich danke Ihrem Verein, dass Sie diese Arbeit machen, die vor allem für die jungen Menschen wichtig ist, damit sie alles über die Gräuel der Kriegsgefangenschaft erfahren, die wir damals durchlebt haben, als wir jung waren.

Schon das Wort Krieg ist ein schreckliches, unheilverkündendes Wort. Es steht für das vergossene Blut von Millionen Menschen. Wir brauchen keinen Krieg.

Möge auf dem ganzen Planeten mit dem Namen Erde immer Frieden herrschen.

Ich bin für Freundschaft zwischen den Völkern, egal, welcher Nationalität sie sind.

Ich danke Ihrem Verein nochmals sehr für Ihr Interesse an uns ehemaligen Kriegsgefangenen.

Auf Wiedersehen!

Lipartija

Aus dem Russischen von Valerie Engler