Antonia Wassiljewna St., Taissa Wassiljewna M.- Freitagsbrief Nr. 117

Antonia Wassiljewna St.
Taissa Wassiljewna  M.

Belarus, Witebsk

26.05.2017

Guten Tag, verehrte Freunde (Spender, Vereinsmitglieder und -mitarbeiter), Aktivisten des Vereins „Kontakty“ und des Fonds „Wsaimoponimanije“.

Ich,  Antonia Wassiljewna, und meine Schwester, Taissa Wassiljewna, haben ihre materielle Hilfe erhalten, die eine große Unterstützung für uns ist. Wir danken Ihnen vielmals und verneigen uns zutiefst. Doch das Wichtigste ist die moralische Hilfe, dass „nichts und niemand vergessen ist“. Ihre Anteilnahme rührt uns zu Tränen, beim Lesen Ihres Briefes kommen die kindlichen Erinnerungen wieder an die Oberfläche. Ich war erst 4 Jahre alt, meine Schwester 6. Aber wir haben Angst, Hunger, Kälte erlebt, mussten mit ansehen, wie Soldaten und Zivilisten starben.

Wir erinnern uns noch gut, wie die Faschisten in unser Dorf kamen (30 Kilometer von Witebsk entfernt). Sie gingen durchs Dorf, als wären sie die Herren. Fingen Hühner ein, drehten ihnen die Hälse um und kochten sie. Jagten den Schweinen hinterher. Sie machten sich in unseren Häusern breit, und wir mussten uns irgendwo Unterschlupf suchen. Vor dem Krieg war es ein schönes Dorf, die Häuser neu gebaut.

Dann, als der Vormarsch Richtung Moskau begann (Schüsse überall), flohen wir in die Wälder, versteckten uns in den Schluchten am Fluss. Aber die Faschisten trieben alle Zivilisten zusammen (Erwachsene, Kinder, Alte) und jagten sie nach Witebsk, in das Lager „Fünftes Regiment“. Uns hatten sie auch schon vom Fluss vertrieben. Und dann geschah Folgendes. Unsere Mutter und wir zwei Schwestern (wir hatten außerdem eine Kuh bei uns, unsere Ernährerin) wollten nicht weggehen. Wir krallten uns an dem Seil fest, das um die Kuh gebunden war, und ließen nicht los. Der Deutsche, der uns antrieb, nahm sein Gewehr von der Schulter und wollte schießen. Aber wir schrien und weinten fürchterlich. Er schaute sich das Ganze an (vielleicht hatte er auch Kinder, er war nicht mehr jung), winkte ab und bedeutete uns, dass wir wieder zurückrennen sollen und uns verstecken, sonst würden alle umgebracht.

So entkamen wir dem Lager, und dann brachten die Partisanen alle Zivilisten, die noch da waren, über die Frontlinie. Wir mussten lange Hunger und Kälte leiden.

Und als wir im Herbst 1943 [sic!] in unser befreites Dorf zurückkehrten, erblicken wir ein schreckliches Bild.

Es war alles verbrannt, nur die Kaminrohre standen noch in der Asche.

Alle jungen Männer aus dem Dorf waren an die Front gezogen, auch unser Vater. Nur die allerwenigsten kehrten zurück. Viele unserer Nachbarn verloren drei oder vier Söhne. Unsere Mutter hat drei Brüder an die Front verabschiedet (der jüngste war gerade erst 18 geworden), sie alle sind verschollen. Zwei von ihnen sind (soweit wir wissen) bei Witebsk gefallen. Der mittlere Bruder war zum Arbeiten in den Kaukasus gegangen (er war Tierarzt) und verschwand auch spurlos. Wie viele Tränen haben wir vergossen, wie lange haben wir gehofft: Vielleicht lebt noch jemand, vielleicht kehrt jemand zurück, aber nein …

Unser Vater, ein Kriegsveteran, hat bei Moskau gekämpft, wurde verwundet, lag im Hospital, aber ist Gott sei Dank zurückgekehrt.

Wir sind sehr dankbar, dass Sie diese große Arbeit tun, und hoffen, dass sich dieses ganze Grauen niemals wiederholt, dass unsere Kinder und Enkel niemals Krieg erleben müssen und die harten Jahre danach, wenn alles von Null wiederaufgebaut werden muss.

Aber wir haben alles überlebt. Haben die Schule abgeschlossen (sieben Kilometer mussten wir laufen), haben studiert. Ich bin Tierärztin geworden, meine Schwester Mathematiklehrerin. Jetzt leben wir von einer bescheidenen Rente in Witebsk.

Wir verneigen uns zutiefst vor Ihnen, für Ihre Hilfe, für die Erinnerung und Anteilnahme.

Hochachtungsvoll

[Unterschriften]

Aus dem Russischen von Jennie Seitz