Walentina Aleksejewna R. – Freitagsbrief Nr. 195

Dieser Brief ist der Bericht der inzwischen verstorbenen älteren Schwester von Antonina R. (194. Neuer Freitagsbrief), den sie für einen Sammelband der Organisation der minderjährigen Gefangenen des Faschismus verfasste, der aber offensichtlich nie veröffentlicht wurde.

Ukraine, Dnipro

Möge dieser Bericht meiner Schwester, Walentina Aleksejewna R., zum Gedenken daran dienen, wozu der Totalitarismus im fanatischen Streben nach der Weltherrschaft fähig ist. 
Antonina R., ehemalige minderjährige Gefangene des Faschismus

Wir haben durchgehalten!

Unsere große, einträchtige Familie wohnte vor Kriegsbeginn in der Stadt Dnepropetrowsk (jetzt Dnipro) in der Arbeitersiedlung Neu-Klotschko.

Unser Vater, Aleksej Ignat’jewitsch R., arbeitete im Kirow Waggon-Wartungsbetrieb; unsere Mutter, Warwara Stepanowna R., zog die Kinder groß. Zu Beginn des Krieges waren wir vier. Das sind wir Geschwister: Boris, geb., 1928, Walentina, geb. 1934, Nina, geb. 1937, Anatolij, geb. 1940.

Der Krieg begann. Unser Vater wurde als Eisenbahner nicht an die Front eingezogen. Vor der Besetzung der Stadt D. wurde der Betrieb evakuiert. Das Geld, das zur Evakuierung der Familie zur Verfügung gestellt wurde, hätte nur für die Strecke bis zu der eine Stunde Fahrt entfernten Stadt Sinel’nikowo gereicht, deshalb blieb die Familie in der besetzten Stadt.

Im Mai 1943 wurde noch ein Kind geboren – das Mädchen Tonya. Das Schicksal unserer Familie war sehr bitter. Es war sehr schwierig, auf dem zeitweise besetzten Gebiet zu überleben.

Als im September 1943 unsere Streitkräfte den Kampf für die Befreiung unseres Gebiets aufnahmen, wüteten die Faschisten wie die Berserker. Die ganze männliche Bevölkerung des Dorfes wurde gewaltsam in die Sklaverei verschleppt.

In diesen Strudel der Ereignisse gerieten unser Vater und mein Bruder Boris als 15-jähriger Heranwachsender. Als die Gestapo ins Haus kam, nahmen sie den Vater und Boris mit. Aber unsere Mutter brachte das Unmögliche fertig – unseren Bruder den Faschisten zu entreißen. Er war dünn und klein, deshalb gab der Faschist der Bitte unserer verzweifelten Mutter nach und kickte Boris mit einem Fußtritt in den Hintern aus der Kolonne der Zwangsarbeiter hinaus. An diese Szene erinnerte er sich oft.

Mein Vater wurde zuerst ins Gefängnis geworfen und dann zusammen mit anderen Dorfbewohnern nach Deutschland verschleppt. Er befand sich in einem der Berliner Lager und arbeitete bei der Eisenbahn. Seine Arbeit war schwer. Essen gab es einmal am Tag, morgens Tee, und um 6 Uhr abends Kohlrübensuppe und 200 Gramm sogenanntes Brot. Nach der Befreiung durch die Rote Armee am 25. April 1945 nahm er an den Kampfhandlungen teil und wurde ausgezeichnet.

Als sich im September 1943 die Frontlinie der Stadt D. näherte, brannten die Faschisten die Häuser in der Siedlung nieder und jagten die Menschen fort, benutzten sie als lebende Schilde und verschleppten sie in die Sklaverei. In diese fürchterliche Kette von Ereignissen geriet auch unsere Familie.

Stellen Sie sich dieses Bild vor: Ein Handkarren mit ein paar Sachen – die Faschisten hatten keine Zeit gelassen, um etwas zu packen, weil sie die Häuser abbrannten. Unsere Mutter, Warwara Stepanowna, hatte die viermonatige Tonya auf dem Arm, und der dreijährige Tolik wurde mit Fußlappen an den Wagen angebunden, damit er in seiner Panik nicht weglaufen konnte. Die sechsjährige Nina trug ein Bündel, ich, die achtjährige Walya auch, und der fünfzehnjährige Boris war als Ältester der Familie Mutters Stütze. Sie zogen den Wagen gemeinsam.

Die Kolonne der Elenden begleitete ein Reiterkonvoi. So bewacht liefen wir 3 Tage bis zur Kriworozhsker Landstraße. Wer fliehen wollte, wurde auf der Stelle erschossen. Wir übernachteten in der Steppe in Heuhaufen.  In den Nächten fror es Ende September schon leicht.

Eine Episode hat sich für das ganze Leben ins Gedächtnis eingebrannt. Einem Geleitposten fiel die kinderreiche Familie auf, und er „konfiszierte“ für uns auf einem der Höfe warmes Schmalz mit Fleischstückchen. Diese Handlung des Begleitpostens half uns, den Weg zu überstehen.

Dann wurden wir in einen Güterwagen verladen und auf den gefährlichen Weg ins Ungewisse geschickt. Unterwegs passierte alles Mögliche. Der Kanonenofen setzte den Waggon in Brand und konnte kaum gelöscht werden mit dem Sand, den wir während der Fahrt hereinschaufelten. Es gab keine Toiletten. Stattdessen wurde ein Loch in die Mitte des Waggons gemacht, das als Toilette diente.

An den Haltestellen bemühten sich Mama und Boris, etwas Essbares herbeizuschaffen, weil die Verpflegung der Sklaven niemanden interessierte. Sie schlichen sich durch die verlassenen Gemüsegärten entlang der Strecke und wären einmal fast zu spät zum Zug gekommen. In der letzten Minute erwischten sie die Stufe des letzten Waggons…

Eine Frau, die die Mühen meiner Mutter beobachtete, sagte zu ihr: „Was schleppst Du ein Stück Fleisch herum, schmeiß es weg!“  Sie sprach von der viermonatigen Tonya, die ganz von Skrofelpusteln bedeckt war, weil es keine Möglichkeit für die richtige Pflege von Babys gab.

Nach der Ankunft in Österreich wurden wir in einem Lager untergebracht, alle mussten sich ausziehen. So standen wir nackt drei Stunden herum, und dann wurden wir ohne weitere Erklärung in ein Lager bei der Eisenbahn gebracht, in die Stadt Neumarkt nicht weit von Linz. Das Lager war international. Dort befanden sich Zwangsarbeiter aus Russland, der Ukraine, Polen, Italien.

Mama und Boris kamen in das Arbeitskommando bei der Eisenbahn. Sie wechselten Geleise aus, Schwellen, Schienennägel, schleppten schwere Montagewinden: sie arbeiteten extrem hart, bis zum Umfallen.  Sie mussten Schotter aus Waggons ausladen und einladen, Schienennägel mit der Spitzhacke einschlagen. Sie wurden gezwungen, auch während der Bombenangriffe zu arbeiten. Sie mussten Gleise und Schwellen reparieren, Trümmer wegräumen, Bombentrichter zuschütten. All das leisteten die halbverhungerten Menschen. Sie hatten keine normalen Schuhe und liefen bei jedem Wetter in Holzklötzen herum. Später arbeitete Mama im Lager als Putzfrau.

Wir wohnten in Holzbaracken zusammen mit Heerscharen von Ratten und Wanzen. Morgens streiften Mama und Tonja die vollgesogenen Wanzen ab. Statt Betten gab es zweistöckige Pritschen. Das Territorium, auf dem die Baracken standen, war von Stacheldraht umzäunt und wurde von Wachleuten mit Hunden bewacht.  Für Übertretungen gab es Einzelhaft. Boris saß einige Male dort ein, weil er sich bemühte, seine Arbeit bei der Bahn „schlecht“ zu machen – in der Gefahr, in das nahegelegene Todeslager Mauthausen zu geraten.

Das Essen im Lager war furchtbar, und die kleine Tonya ernährte sich von einem in einen Lappen gewickelten Stückchen „Brot“ oder etwas anderem Essbaren. Und die älteren Kinder hungerten. Kann man den Hunger mit einer fettfreien Wassersuppe stillen?

Ich erinnere mich, dass die Küchenhilfe im sogenannten Speisesaal während des Essens für die Kinder jedem mit “eins“ Suppe in die Schale goss und mit „zwei“ den Löffel auf den Kopf schlug.

Nach der langersehnten Befreiung Anfang Mai durch die sowjetische Armee gerieten wir gleich in ein „Filtrationslager“, wo ein strenger militärischer Drill herrschte bei den Befragungen durch den sowjetischen Geheimdienst NKWD: Wer? Was? Wann? Warum hier? Der Weg nach Hause war auch lang und gefährlich. Der Militärtransport wurde mehrmals beschossen.

Unsere Familie überstand alle Schrecken und Albträume des Lagerlebens in der Unfreiheit, aber zu Hause war es auch nicht leicht.

1946 wurde noch ein Kind in unserer Familie geboren, unser Bruder Wowik. Und weniger als ein Jahr später, im Mai 1947, starb ganz plötzlich unser Vater an einer kruppösen Lungenentzündung. Das waren die Auswirkungen der Sklaverei und des Hungers. Die Mutter blieb allein mit 6 Kindern. Die frostigen Mauern der schlecht geheizten Notunterkunft, das Hungerjahr.

Leider erhielt in dieser Zeit unsere Mutter nach dem Verlust des Ernährers kein Kindergeld, weil der Vater nur kurz in der Stadt gearbeitet hatte. Mutter schlug man vor, die Kinder ins Waisenhaus zu geben. Aber das tat sie nicht. Mama und der ältere Bruder Boris nahmen die Sorge für die Jüngeren auf sich. Sie hatte keinen Beruf gelernt. Sie nahm eine Stelle im Karl-Liebknecht-Hüttenbetrieb als Hilfsmaurerin an. Aber Borya erhielt schon eine Berufsausbildung in der Fachschule der Eisenbahn Nr. 2 und arbeitete in der Waggon-Werkstatt. Er bemühte sich, nirgends über seine Vergangenheit zu sprechen. Erst in der Zeit der Perestrojka wurde es möglich, laut über unsere Vergangenheit zu sprechen.  Wir damaligen Kinder sind zu ehrenhaften Menschen herangewachsen. Wir verneigen uns mit  ehrendem Gedenken vor unserer Mutter, Warwara Stepanowna, einer mutigen Frau, einer MUTTER – großgeschrieben, die in unerhört schwierigen Umständen alle Kinder rettete und erhielt, die ihr ganzes arbeitsreiches Leben lang mit  aller Kraft arbeitete im Namen des Lebens und der Rettung ihrer Kinder.

Wir erinnern uns mit Wärme an ihre Mutterhände.

Walentina R.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin  Ruppelt