Sinaida Wassiljewna S. – Freitagsbrief Nr. 57

Belarus, Witebsk

Liebe KONTAKTbI-Aktivisten!

Als erstes möchte ich allen Mitgliedern des Vereins danken dafür, dass Sie sich an uns, die Kinder des Krieges, erinnert und uns geholfen haben. Es ist keine große Summe, aber was zählt, ist die Aufmerksamkeit, die menschliche Anteilnahme und das Mitgefühl.

Ich möchte ein paar Worte schreiben – meine Erinnerungen an den Krieg. Ich wurde im Oktober 1929 im Dorf Liopino geboren. Als der Krieg begann, war ich ein junges Mädchen. Aber ich erinnere mich noch gut an jene schrecklichen Tage und das Grauen. Die deutsche Armee besetzte unsere Gegend schon im Juli 1941. Sofort begann die Jagd auf die Juden und ihre Vernichtung. Ich erinnere mich noch an unsere Lehrerin, sie war 23 und hieß Golda Israiljewna, eine schöne junge Frau, sie unterrichtete Mathematik und war immer fröhlich, hat viel gesungen und uns von anderen Ländern und Städten erzählt, wir mochten sie alle sehr. Sie wurde zusammen mit ihrer ganzen Familie am Dorfrand erschossen und in einen Panzerabwehrgraben geworfen.

Das Dorf Liopino lag am Ufer der Kasplja, ein malerischer Ort, umgeben von Wald, und in diesen Wäldern versteckten sich die Partisanen. Die ersten Gruppen dieser Volksrächer hatten sich bereits in den ersten Tagen des Krieges formiert. Die Partisanen kontrollierten das rechte Flussufer, das Territorium am linken Flussufer hatte die deutsche Armee eingenommen. Tagsüber fielen die Soldaten der Wehrmacht im Dorf ein, raubten Hühner, Schweine und das Gemüse von den Feldern. Ich habe mir die Buchstaben auf den Abzeichen der Soldaten und Offiziere eingeprägt: SS und SD. Sie gingen besonders grausam mit der Bevölkerung um: Wenn die Verräter ihnen irgendjemanden anzeigten, der mit den Partisanen in Verbindung stand, wurde derjenigen erschossen oder gehängt.

Unsere Familie (Mutter, Vater und meine älteren Brüder, insgesamt sechs Leute) musste aus dem Haus in den Stall ziehen, so lebten wir sechs Monate lang Seite an Seite mit der Kuh und den Hühnern, ins Haus durfte nur unsere Mutter, um Brot für den deutschen Offizier und für uns zu backen. Im September 1943 begannen sie, Jugendliche aus den umliegenden Dörfern zum Arbeiten nach Deutschland zu verschleppen. Der Offizier der deutschen Armee, der in unserem Haus wohnte, hat unsere Familie gewarnt, und so packten wir ein paar Sachen und etwas zu essen zusammen und gingen in den Wald. Wir gruben eine Erdhütte aus und verbrachten über einen Monat darin. Bei ihrem Rückzug gingen die deutschen Truppen dazu über, Dörfer in Brand zu setzen, das noch lebende Vieh zu töten und die Flussbrücken in die Luft zu sprengen. So brannte auch unser Dorf ab, es waren 60 Höfe. Als wir aus dem Wald zurückkehrten, fanden wir nur noch Brandstätten. Wieder gruben wir eine Erdhütte, dieses Mal auf unserem eigenen Grundstück, gruben die übriggebliebenen Kartoffeln aus, es war auch etwas Getreide in der Erde vergraben – so haben wir überlebt.

Während der deutschen Okkupation sind in unserer Gegend sehr viele Menschen gestorben, friedliche Bewohner aus unserem und den umliegenden Dörfern. Bei Surash (etwa 12Kilometer von Liopino entfernt) wurden über 1000 Menschen erschossen. Es waren Erwachsene darunter wie auch Kinder jeden Alters, ganz kleine genauso wie ältere. Die Menschen wurden aufs Feld hinausgeführt, gezwungen, einen Graben zu schaufeln, sich daran entlang aufzustellen, und dann wurden sie erschossen. Alle kamen unter die Erde, auch die Verletzten, man erzählte sich, dass dort noch tagelang Stöhnen zu hören war und die Erde sich bewegte. Heute befindet sich an der Stelle eine Kriegsgräberstätte zu Ehren der gefallenen sowjetischen Soldaten und ein jüdischer Friedhof. Der Graben, in dem die zivilen Opfer der Erschießung liegen, ist noch immer ein mit Gras bewachsener Graben. Meine älteren Brüder wurden nach der Befreiung in die Armee einberufen, aber sie kämpften nur kurze Zeit, fielen beide auf belarussischem Boden. Auch die Zeit nach dem Krieg war sehr hart: Hunger, Kälte, Not, aber irgendwie haben wir überlebt. Jetzt lebe ich bei meiner Tochter, sie ist Ärztin. Ich habe außerdem einen erwachsenen Sohn, er arbeitet als Pharmazeut. Und ich habe vier Enkel und vier Urenkel. Sie leben in Belarus und in Russland, der älteste Enkel lebt in den USA, Staat Pennsylvania, arbeitet im Bereich der innovativen Technologien. Meine Kinder und Enkelkinder sind erwachsen, haben alle studiert, ich bin sehr stolz auf sie.

Ich danke Ihnen noch einmal für Ihre Aufmerksamkeit und die Erinnerung an die Opfer dieses grausamen Krieges. Sie leisten sehr wichtige Arbeit, um diese Schrecken sich niemals wiederholen zu lassen. Ich wünsche Ihnen und all Ihren Lieben Gesundheit!

Hochachtungsvoll

S. Sinaida Wassiljewna

April 2017, Belarus

Aus dem Russischen von Jennie Seitz