Olga Filippowna L. – Freitagsbrief Nr. 155

Gebiet Winniza, Ukraine
Oktober 2020

Lieber Gottfried Eberle!

Ich habe Ihren Brief erhalten. Ich bin sehr dankbar für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Hilfe.
[…]
Nun, im Wesentlichen zum Brief, den ich von Ihnen erhalten habe.

Ich möchte sagen, dass ich keine Distanz oder Hass empfinde und auch nie empfand. Sie haben diesen Krieg nicht begonnen, aber ich muss Ihnen zugute halten, dass Sie Ihr Bestes versucht haben, Menschen zu helfen, die unter dem Faschismus gelitten haben. Man sieht sofort, dass Sie in einem zivilisierten Land leben.

Ich habe eine Bekannte, die einen Deutschen geheiratet hat und in Deutschland lebt. Sie kommen uns besuchen, und wir sind sehr herzlich und liebevoll zu Natalias Ehemann Heinrich. Wir können also keine Entfremdung oder Vorurteile Ihnen gegenüber haben und werden sie auch nicht haben.

Was mein Leben betrifft, so war es sehr schwierig. Als wir 17 Jahre alt waren, wurden viele junge Menschen entführt, um in Deutschland zu arbeiten. Sie brachten uns in Güterwaggons dorthin. Das endgültige Ziel, wohin sie uns von Winniza aus nahmen, war Mainhausen. Sie luden uns in der Nähe einer Kirche ab und brachten uns dann zu unserem Arbeitsplatz. Sie stellten Holzbaracken mit Räumen für 8 Personen auf und versorgten uns sehr schlecht. Wir wurden in einer Fabrik für elektrische Lampen eingesetzt, höchstwahrscheinlich für die Militärindustrie.

Ich saß an der Stelle, wo die Lampen gelötet wurden. Der Vorgesetzte (oder Meister), der die Arbeit kontrollierte, hat mich nicht geschlagen. Und wenn ich bei der Arbeit kurz einschlief, sagte er immer: “Olga, du schläfst doch”, und ich antwortete sofort: “Nein.” Wir Jugendlichen waren sehr müde damals und er verstand das wahrscheinlich.

Ich erinnere mich, dass ich in meiner Freizeit immer noch zusätzlich in der Küche arbeiten ging, da ich ein wenig Deutsch konnte. Dort freundete ich mich mit einer einheimischen Frau an. Sie brachte mir Socken zum Flicken, wofür sie mir immer ein paar Scheiben Brot aus ihrer Ration gab. Sie bekamen auch Brot auf Karten, aber sie teilte es trotzdem mit mir. Sie beschwerte sich auch bei mir, dass sie keinen Krieg wollte, und wir weinten sogar gemeinsam.

Ich habe zwei Jahre lang in der Fabrik gearbeitet. Dann kamen die amerikanischen Truppen und übergaben uns an die Russen.

Ich ging zurück nach Hause. In unserem Haus war ein russischer Posten einquartiert. Es waren nämlich Russen. Und ich werde mich an diese Zeit noch erinnern, wenn ich im Sarg liege, als sie über mich alle möglichen obszönen Dinge sagten, dass ich, sozusagen freiwillig nach Deutschland gegangen bin. Bis sie gingen, versuchte ich, ihnen nicht unter die Augen zu kommen.

Sehr lange Zeit hatten ich und andere Frauen, die in Deutschland waren, Angst, auch nur zu erwähnen, dass sie mit Gewalt verschleppt worden waren. Jahrzehnte später kam das politische Tauwetter, erste Hilfe erhielt ich von Ihnen. Und dann sprach man laut darüber, aber nicht mehr mit Verurteilung, sondern mit Respekt.

Nur wenige Menschen werden über das schreiben, worüber ich Ihnen schreibe, und es zugeben.

Das Leben nach dem Krieg war nicht leicht für mich. Ich habe als Weberin gearbeitet, ich war sehr gut darin. Menschen wie ich wurden zum Studium geschickt. Ich wurde auch an das Institut für Leichtindustrie geschickt. Aber es herrschte schreckliche Armut in der Familie, und ich blieb, um zu arbeiten, weil ich meiner Mutter helfen musste.

Dann habe ich geheiratet. Mein Mann war auch Frontsoldat gewesen, er hat den ganzen Krieg mitgemacht. Wir bauten ein Haus, zogen eine Tochter groß. Sie erhielt bereits eine höhere Ausbildung. Ihr Ehemann ist Oberst im Ruhestand.

Meine Tochter und ihr Mann leben mit mir zusammen und kümmern sich um mich, weil ich bereits Hilfe brauche. Ich bin Invalidin der ersten Gruppe, hatte einen Unfall in der Fabrik, in der ich arbeitete, und erlitt Verbrennungen an 75 % meines Körpers. Danach hatte ich noch sechs weitere Operationen und eine Wirbelsäulenfraktur. Aber trotzdem bin ich wieder auf die Beine gekommen. Ich habe meiner Enkelin geholfen, meine Urenkel, ihre Kinder, zwei Mädchen im Schulalter nach all dem zu beaufsichtigen.

Ich habe eine Enkelin. Sie ist Offizierin in der ukrainischen Armee. Urenkelinnen habe ich drei. Eine von ihnen beschäftigt sich mit Computergrafik, die zweite – eine Offizierin, genau wie ihre Mutter, die dritte – geht in der 6. Klasse zur Schule, lernt Fremdsprachen, beschäftigt sich mit orientalischen Tänzen: Sie ist siebenfache Meisterin der Ukraine und einmal Europameisterin (in Polen). Ich habe bereits einen Ururenkel, er geht in die erste Klasse. Jetzt ist also alles in Ordnung. Ich bin umgeben von Familie, Aufmerksamkeit, aber leider – es bleibt nicht mehr viel Zeit zum Leben.

Ich danke Ihnen noch einmal für die Aufmerksamkeit, die Sie mir geschenkt haben.

Mit Hochachtung, Olga Filippowna L.