Nina Michajlowna G. – Freitagsbrief Nr. 146

Rivne Ukraine

Sehr geehrte […]

Von ganzem Herzen danke ich Ihnen für Ihren Brief und die Hilfe in Form von Medikamenten, die man in meinem Alter unbedingt benötigt.

Ein bisschen über mich: Ich bin in eine kinderreiche Dorf-Familie hineingeboren. Meine Eltern hatten sieben Kinder. 1941 überfiel Deutschland heimtückisch die Sowjetunion. Mein Vater ging sofort zur Verteidigung der Heimat an die Front.

Im September 1943 begann die gewaltsame Evakuierung meiner Familie im Visier von Maschinengewehren: Meine Mutter und die Kinder im Alter von 2 bis 17 Jahren (ich war sieben Jahre alt) wurden nach Deutschland verschleppt. Man kann sich vorstellen, wie entsetzlich das war; wir mussten schließlich die große Wirtschaft verlassen, von der unsere ganze kinderreiche Familie lebte. Wir durften nur genug Essen und Wasser für die Reise nach Deutschland mitnehmen. Wir und einige andere Familien wurden in einen Güterwagen verfrachtet und der Zug fuhr los[…] Im Wagen gab es ein Bündel Stroh und einen Toiletteneimer und sonst nichts. Das war entsetzlich und furchtbar. Wir schliefen im Stehen, im Sitzen, in der Hocke, so gut es ging. Bald waren unsere Essens- und Wasservorräte zu Ende. Im Wagen stand die Luft, die Kinder weinten, es stank, bis heute erinnere ich mich an diese Schrecknisse.

Wir wurden nach Cottbus gebracht und in ein Arbeitslager gesteckt. Unsere Mutter arbeitete bei einem Bauern in der Landwirtschaft. Der älteste, 17-jährige Bruder arbeitete in einer Lokomotiven-Fabrik, meine älteste, 15-jährige, Schwester als Putzfrau im Lager. Unsere Mutter und die älteren Geschwister arbeiteten sehr hart, 12 – 15 Stunden, unter Androhung von Peitschenhieben.

Die mittleren Kinder, darunter auch ich, kümmerten sich um die jüngsten. Wir bekamen die meiste Zeit Kohlrüben zu essen und hatten großen Hunger. Meine 9-jährige Schwester und ich gingen manchmal betteln. Manche Leute gaben uns etwas zu essen oder gaben uns ein Stückchen Brot mit, andere hetzten die Hunde auf uns.

Das Leben im Lager war sehr schwer. Durch das schlechte Essen erkrankte unser jüngerer Bruder an Rachitis und konnte nicht mehr laufen. 1944 begann im Lager eine Typhusepidemie. Meine Schwester Tonja und mein Bruder Ljonja erkrankten sehr schwer. Ljonja überstand den Typhus nicht – er starb. Meine Schwester überlebte zum Glück.

Am 21. April 1945 nahm unsere Armee Cottbus ein und befreite uns. Dieses Datum erfuhr ich vor 5, 6 Jahren durch eine Fernseh-Kriegschronik.

Jetzt bin ich 84 Jahre alt, von meiner ganzen, großen Familie bin nur ich noch am Leben. Wie ich schon gesagt habe, starb mein Bruder Leonid Mihajlovich Puzanenkov, geboren 1931/32,  in Deutschland an Typhus. Es war Krieg, und er wurde nicht weit vom Lager entfernt an einer Straße begraben. Mein ganzes Leben lang erinnere mich mit Schmerzen an meinen Bruder. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie etwas über ihn in Erfahrung bringen könnten. Vielleicht liegt er in einem Massengrab.

Ich wohne jetzt bei meiner Schwiegertochter und dem Enkel – sein Vater, mein Sohn, starb 2011. Auch mein Mann ist gestorben – vor 13 Jahren. Ich habe Kinder, Enkel und Urenkel.

Gesundheitlich geht es mir schlecht: ich höre schlecht, habe ein Hörgerät, Asthma, Enzephalopathie, eine degenerative Erkrankung der Wirbelsäule, so dass ich nicht stehen und nicht laufen kann: ich gehe nur am Stock.

 Aber ich gebe nicht auf und bemühe mich, aktiv zu leben. Sehr oft erinnere ich mich an die schrecklichen Kriegsjahre und die Heimsuchungen, die meine Generation erleiden musste. Deshalb verstehe ich, dass das Wichtigste der Frieden auf unserem Planeten ist.

Mit Dankbarkeit für Ihre Arbeit, Ihre Hilfe

Nina Mihajlovna G.    

17. September 2020, Rovno [sic!], Ukraine