Ljudmila Pavlovna D. – Freitagsbrief Nr. 183

Ukraine, Odessa
Januar 2020

Ich wurde 1938 geboren, 1941 begann der grausame Krieg. Mein Bruder und ich waren 2 bzw. 3 Jahre alt.

Vor dem Krieg lebten wir mit Papa und Mama in der schönen, glücklichen Stadt Odessa. Und dann kam – der Krieg! Papa ging an die Front und kam 1945 um bei Königsberg, und wir blieben von 1941 bis 1944 in der besetzten Stadt. Hunger, Kälte, Zerstörung! Wir jüdischen Kinder wurden in Kellern oder auf den Speichen der Häuser und in den zerstörten Datschen im Fango-Kurort Kujal’nika versteckt. Aber niemand hat uns verraten und ausgeliefert!

Wir sahen, wie die Besatzer die unglückseligen Juden mit den kleinen Kindern zum Bahnhof Odessa-Sortirovochnaja trieben zum Abtransport ins Ghetto. Kälte, Frost und das Gebrüll der Wachsoldaten. […] Meiner Großmutter gelang es, zwei kleine Kinder aus der Menge zu schnappen, die sie dann zusammen mit uns und mit Mamas Freundin und deren Sohn versteckte.

Es sind viele Jahre vergangen, aber der Schrecken dieser Tage bleibt bis heute im Gedächtnis.

Ich bin schon 80 Jahre alt, mein Bruder lebt nicht mehr, er ist in einer anderen Welt. Das ist leider der natürliche Lauf des Lebens.

Wir haben ein langes und würdiges Leben gelebt, erhielten eine Ausbildung, arbeiteten, zogen Kinder groß und brachten ihnen etwas bei und halfen, die Enkel großzuziehen.

Seit kurzem bin ich allein, mein Mann, mit dem ich 60 Jahre zusammengelebt hatte, starb!

Und wenn ich heute im Gedächtnis die Ereignisse der vergangenen Jahre bewege, mich an Verluste und Erfolge erinnere, denke ich nur an das Gute.

Dazu gehört Ihre Sorge um uns, die Kinder des Krieges und Opfer des Nazismus. Dieser Ausdruck von Edelmut und Barmherzigkeit uns alten Leuten gegenüber, die beladen sind mit Problemen des täglichen Lebens und Gesundheitsproblemen, ist uns sehr teuer! Unsere Probleme und ihre Bewältigung finden ein Echo in Ihren Herzen.

Barmherzigkeit, die Fähigkeit, Fehler zu verstehen und zu korrigieren, ist eine wunderbare menschliche Eigenschaft.

Ich danke Ihnen für Ihre Sorge, Ihre Hilfe, für das gute Verhältnis zu uns alten Leuten, die damals ihrer Kindheit beraubt wurden, für Ihr Verständnis der damaligen und der heutigen Situation.

Ich wünsche Ihnen Gesundheit und Erfolg bei Ihrer edlen Sache!

Übersetzung Karin Ruppelt