Die Frau im offenen Fenster des italienischen Restaurants rief meinen Namen. Ich eilte durch den Garten und nahm den Korb mit dem Topf duftender Fischsuppe entgegen. „Wir haben ein wenig mehr gekocht, dass Sie auch heute Abend noch etwas haben!“, fügte sie fast verschwörerisch hinzu. „Eine Wohltat! Und Danke!“, sagte ich und zahlte mehr als die Rechnung wollte. „In München zahlen Nachbarn der kleinen Buchhandlung nebenan eine Monatsmiete! Dann sollte ich doch ein Dankeschön für die köstliche Fischsuppe sagen!“. „Ach, für eine kleine Buchhandlung!“, sagte die Köchin erstaunt und gerührt, „ja, dann vielen, vielen Dank!“ „Und diese Fischsuppe erinnert mich an viele Bücher-Abende, die ich erlebt habe, die immer mit einer Suppe ihren Höhepunkt fanden! Ich danke Ihnen!“ Sie winkte, glücklich verwundert, mir nach…
In Zeiten der „abgesagten Anwesenheit“ bedarf es neuer Wege, „Kontakte“ zu bewahren, zu festigen mit Impulsen zu fördern. So entstand der Gedanke, einen „Bücherbrief“ zu schreiben, den jour fixe medial auszusenden mit der Ankündigung: „Dies Buch hätten wir als nächstes vorgestellt!“ und es so weit zu treiben, bei Interesse es auch zur Verfügung zu stellen, zum Weiterlesen, zum Tauschen, rundum: es „zu teilen“. War doch die junge Sowjetunion die erste, die so etwas wie „Frei-Hand-Bibliotheken“ für das Volk einführte. So erzählt es Günter de Bruyn in „Vierzig Jahre– Ein Lebensbericht“, in Erinnerung an seine Bibliothekarsausbildung in der DDR. (Alle genannten Titel stehen am Ende gesammelt!) Da gab es den deutsch-prinzipiellen Streit: Bücher in Kellermagazinen, erhältlich nur nach schriftlicher Anmeldung mit Ausleihzetteln, möglichst in dreifacher Ausfertigung – oder „frei Hand“,zum Be-greifen, Anfassen, Anblättern, Probelesen. Das sollte uns mit empfohlenen Bücher auch möglich sein!
Da wir Günter de Bruyn erwähnten: Eben ist sein Band schienen: „Mein Brandenburg“ neu aufgelegt mit Fotos der wunderbaren Fotografin Barbara Klemm. Spreewald, Havelland und Oderbruch stehen im Mittelpunkt des schönen Buches. Der bekenntnishafte Titel hält, was er verspricht! Ein Bilder-Buch zum Lesen und Wandern wie für diese Zeiten gemacht.
In Zeiten der „abgesagten Anwesenheit“ tut es gut, verloren gegangenen Büchern wieder Anwesenheit zu geben, ja, sie zu ent-decken, sie wahr zu nehmen, nach dem sie uns und auch ihren Autoren lange Zeit vorenthalten wurden. Diese Buch-Geschichte Osteuropas muss erst noch geschrieben werden, dann wird aber dazugehören ein Meisterwerk, das alle Maßstäbe durchbricht und in seiner ungestümen Wortkraft und erzählerischen Energie, unaufhaltsamen Darstellungsexplosion und so rasenden wie mikroskopisch präzisen Beschreibungsrasanz im Sinne des Wortes ein-malig ist. Wer sich um Punkte, Kommata, geschweige denn Absätze bemüht, wird rasch aufgeben. Das Leben ist kein stiller langer Fluss, es ist ein kataraktähnlicher Schnellstrom und dabei genau, detailliert, ein präzise sich reihender Bilderfluss.
Um wen und was geht es? Leonid Zypkin, Ein Sommer in Baden-Baden, im März erschienen samt dem Erstlingswerk des Autors: „Eine Brücke über den Fluss“. Um beide Bände müht sich der Aufbau-Verlag: Dem „Sommer in Baden-Baden“ gibt er ein brilliantes Vorwort von Susan Sontag hinzu und das „St. Petersburg-Album“ des Autors, der „Brücke“ ein berührendes Nachwort des Sohnes Michael Zypkin, das über den historischen Hintergrund aufklärt. Die Leistungen im Übersetzen von Alfred Frank und Ganna-Maria Braungardt fordern auch dem Nicht-Russischkenner großen Respekt ab.
Wer war Leonid Zypkin? In dem Ramschkasten zerfledderter Taschenbücher vor einer Londoner Buchhandlung stieß Susan Sontag auf einen Band, den sie bald „zu den schönsten, anregendsten und originellsten literarischen Werken des vergangenen Jahrhunderts zählen würde.“
Gibt es das, ein noch heute verborgenes literarisches Meisterwerk? Ja, dass es auf uns gekommen ist, grenzt an ein Wunder!
Leonid Zypkin kam 1926 in Minsk zur Welt, es war eine Welt des russischen Judentums, weit verzweigt in der wissenschaftlichen und künstlerischen Elite des Landes. Es mutet seltsam an, dass er beruflich sich auf tödliche Virusinfektionen und die Einführung der Polioschutzimpfungen spezialisierte. Zwei lebensbedrohende Gegner mussten Familie, Verwandtschaft und Freundschaft überleben: den Großen Terror ab 1934 – zur Erinnerung. Karl Schlögel, Traum und Terror, Moskau 1937 – und den allzeit gewalttätigen Antisemitismus. Paart sich der letztere wie auch zunehmend bei uns mit einer der verheerendsten und unbesiegbarsten Mächte dieser Welt, der Dummheit, geht es nur noch ums Überleben. Kommt zur Dummheit die Bosheit hinzu, scheint alles verloren. (Wenn das „Weiße Haus“ 2020 den Sieg über den deutschen Faschismus ausschließlich Amerika und England zuschreibt, ist es schon geschehen…)
Nach den Mühen des Überlebens, die Susan Sontag rekonstruiert, wendet sich Zypkin mit Beginn der sechziger Jahre dem literarischen Arbeiten zu. Mit der Literatur hatte er von Anfang an geflirtet, Pasternak war der Stern seiner Jugend. Aber er schrieb für die Schublade, er fürchtete den KGB und liebte seine Familie. Dem Sohn Michael und seiner Frau Jelena gelang es 1977, Ausreisevisa in die USA zu erlangen, was die Eltern mit Demütigungen zu bezahlen hatten, Rückstufungen, Verlust der zwei Doktortitel, soziale Isolation. Folge: Zypkin fing an zu schreiben und es begann das hochriskante Abenteuer, Manuskripte durch den Eisernen Vorhang (welch ein Name!) in die USA zu… „bringen“. Am 13. März 1982 erschien die erste Folge seines Romans in einer russischen Emigrantenzeitschrift in New York. Sein Sohn rief am 15.März an und teilte es dem Vater mit. Am 20. März erlitt Leonid einen Herzanfall und starb. Er war sieben Tage lang ein veröffentlichter russischer Schriftsteller gewesen – und es war ein Meisterwerk! Ob nun seriös und subtil, ob deftig und plakativ – was immer die Werbung sagt: Es ist so!
„Ein Sommer in Baden-Baden“, von einem Russen geschrieben…das ist keine Pastorale, das meint Dostojewski! Und zuvor noch eine Erinnerung: An einem jour fixe vor 10 Jahren lasen wir „Die Sixtinische Madonna“ , Wassili Grossmans Auslegung von Raffaels Bild; bevor es wieder nach Dresden zurückgebrachrt wurde, konnte man es im Moskauer Puschkin-Museum noch einmal 90 Tage sehen. Grossman stand in einer Warteschlange und irgendwann auch Zypkin. Sie kannten einander nicht. Zypkin wusste, dass eine Reproduktion über Dostojewskis Schreibtisch hing. Er hat aber Grossman nicht gelesen und Grossman wusste nichts vom Ort des Bildes an Dostojewskis Arbeitsplatz…
Vom Roman sagt Susan Sontag: „Nichts ist erfunden. Alles ist erfunden.“ Und das in einem atemnehmenden Ineinanderverwobensein aller nur möglichen Ebenen: Des Lebens von Fjodor („Fedja“) Dostojewski und seiner jungen Frau Anna Grigorjewna, des Lebens von Leonid Zypkin und seiner Frau Natalja Michnikowa, des Lebens der Eltern, der Jahre vor und nach dem Großen Terror, der Jahre in Baden-Baden, der vielen Personen und Stationen in Dostojewskis Romanen und Erzählungen, der Wohnorte und Häuser in St. Petersburg.
Es gibt nur ein „Jetzt“, in das alles zusammenschießt. Der Erzähler sitzt im Zug und liest Erinnerungen von Anna Grigorjewna. Woher hat er das vergilbte sich auflösende Büchlein? Und unmittelbar beginnt sich alles mit allem in unheimlicher Spannkraft zu verweben. Ich muss sagen: Im Sinne des Wortes. Unbeschreiblich! Die Höllenstürze in der Spielbank, die entsetzlichen Erniedrigungen Annas durch diesen Getriebenen, die fürchterlichen Sterbeszenen, ein geradezu unheimliches Einfühlungsvermögen. Wer länger als dreißig Minuten lesen kann ohne aufzustehen und sich der Realität zu vergewissern, dem gilt meine Bewunderung! Allein der Streit mit Turgenjew, dem er in Baden-Baden begegnet, ist ein Roman für sich. Und die Leiden seiner Frau Anna erst recht. Und Baden-Baden, Dresden, Hamburg – und Zypkin hat nie etwas selbst gesehen… Ich breche ab und schließe mich Susan Sontags Worten an: „Aus der Lektüre des Romans „Ein Sommer in Baden-Baden“ geht man geläutert, erschüttert, gestärkt hervor, man atmet ein wenig tiefer und ist dankbar dafür, was die Literatur alles in sich bergen, was sie alles veranschaulichen kann. Leonid Zypkin hat kein dickes Buch geschrieben. Aber er hat eine große Reise gemacht.“
Leonid Zypkin, Ein Sommer in Baden-Baden, Roman, Aus dem Russischen übersetzt von Alfred Frank, mit einem Vorwort von Susan Sontag, Aufbau Verlag Berlin 2020, 238 S., 24.00 Euro
Leonid Zypkin, Die Brücke über den Fluss, Roman, Aus dem Russischen übersetzt von Ganna-Maria Braungardt, mit einer Nachbemerkung von Michail Zypkin, Aufbau Verlag Berlin 2020, 208 S.,22.00 Euro
Günter de Bruyn, Vierzig Jahre, Ein Lebensbericht, S.Fischer Verlag Frankfurt 1996, 267 S.,div. Preise
Günter de Bruyn, Mein Brandenburg, Fotos von Barbara Klemm, 2020, 175 S.,49.00 Euro
Helmut Ruppel