Julia Fjodorowna G. – Freitagsbrief Nr. 225

Belarus, Gebiet Mogiljow
Januar 2023

Sehr geehrte Ragna,

ich danke Ihnen für Ihren Brief, ich danke Ihnen und Ihrer Organisation für Ihre Arbeit und für Ihre Hilfe, – was für eine großartige Arbeit leisten Sie in Ihrem Land, um die Erinnerung an diese grausamen Kriegszeiten lebendig zu halten, es ist sehr wichtig und wertvoll, besonders jetzt.

Ich war 10 Jahre alt, als der Krieg begann, der Große Vaterländische Krieg von 1941. Die Verbindung zu Ihrem Land, Deutschland, entstand jedoch schon früher, während des Ersten Weltkriegs. Mein Vater, Fjodor Aleksandrowitsch P., geboren 1888, lebte im Dorf Tscherwonaja Niwa, Bezirk Klitschewsk, Gebiet Mogiljow, und wurde während des Ersten Weltkriegs als Gefangener nach Deutschland verschleppt, wo er drei Jahre lang in Bergwerken arbeitete. Meine Mutter schickte während dieser drei Jahre Pakete mit einfachen Nahrungsmitteln nach Deutschland und wartete auf die Rückkehr meines Vaters.

Während des Großen Vaterländischen Krieges, im Jahr 1943, wurde die Mutter meines Mannes, Fjokla Iosifowna G., gefangen genommen, obwohl sie ein kleines Kind hatte. Sie wurde 1 Jahr lang gefangen gehalten und arbeitete als Schweißerin in einer Fabrik in Kassel. Nach ihrer Rückkehr aus der Gefangenschaft erzählte sie, dass es nicht nur Menschen gab, die sie verhöhnten und zur Arbeit zwangen, sondern auch gutherzige Frauen, Deutsche, die den Gefangenen manchmal Brot gaben.

1944 fiel mein Schwiegervater, Roman G., an der Front.

Der Krieg hat auch meine Familie nicht verschont. Mein älterer Bruder Aleksandr Fjodorovitsch P., geboren 1914, fiel als Partisan und wurde im Dorf Wirkow, Bezirk Klitschewsk, begraben. Die Dorfbewohner setzten ihm und den anderen im Krieg gefallenen Burschen ein Denkmal.

Ein weiterer Bruder von mir, Nikolaj Fjodorowitsch P., geboren 1924, schloss sich als Jugendlicher den Partisanen an und kam 1943 um. Er wurde im Dorf Usakino, Bezirk Klitschewsk, begraben.

Während des gesamten Krieges wurde unser Dorf bombardiert. Wenn wir das Geräusch eines Flugzeugs hörten, rannten wir alle, Erwachsene und Kinder, sofort in den Wald. Bei der Rückkehr sahen wir dann, dass die Häuser einiger Bewohner zerstört worden waren. Die Deutschen kamen oft in unser Dorf, nahmen uns das Vieh weg, jagten uns im Winter hinaus in die Kälte, manche ließen uns etwas zum Anziehen mitnehmen, andere waren grausam und erlaubten nichts. Viele gingen in den Wald und gruben sich Unterstände im Wald und lebten dort. Auch wir hatten einen Unterstand, unsere Familie gehörte zu den Partisanen, und wir hatten Angst, im Dorf zu leben und fühlten uns dort unsicher. Die Feuchtigkeit im Unterstand machte viele Menschen krank, und sie sind bis heute krank.

Es gab noch ein anderes Dorf in der Nähe von unserem, Ljutino. Ich erinnere mich, dass die Deutschen alle Männer des Dorfes in die Scheune trieben, sie verschlossen und in Brand setzten. Ich hörte, wie die Leute schrien, versuchten herauszukommen und aus den Fenstern sprangen, aber sie wurden sofort erschossen… Der Rauch war dick und schwarz und uns standen die Haare zu Berge. Es ist grauenvoll und erschreckend, sich daran zu erinnern.

Ich erinnere mich an all die Jahre des Krieges, als wir hungrig, ohne Kleider und ohne Schuhe, in Angst lebten. Nicht alle haben überlebt, viele sind bereits verstorben, aber ich lebe noch und erinnere mich. Ich habe drei Söhne und zwei Enkeltöchter. Ich erzähle ihnen oft vom Krieg, damit sie sich erinnern und wissen, dass der Krieg unerträglich und schrecklich war, ein Leid, das die Menschen über Generationen hinweg quält und das man nicht vergessen kann.

Am 8. Februar 2023 werde ich 93 Jahre alt, und es fällt mir nicht leicht, selbst zu schreiben, deshalb habe ich diesen Brief meinem Sohn diktiert, der ihn zu Papier gebracht hat.

Hochachtungsvoll

Julia Fjodorowna G.

Übersetzung aus dem Russischen: Karin Ruppelt und Igor Makarov