Irina Jewgenjewna L. – Freitagsbrief Nr. 128

Dieser Brief wurde  im Dezember 2012 an die belarussische Friedensstiftung, unsere Partnerorganisation in Belarus, geschickt. 2012 hatten wir unsere Solidaritätsaktion zugunsten der Überlebenden der verbrannten Dörfer in Belarus im Bezirk Werchnedwinsk, Gebiet Witebsk, begonnen. 2014 konnten wir die ersten Überlebenden aus dem Bezirk Scharkowschtschina begünstigen.

Irina Jewgenjewna L.

Belarus, Gebiet Witebsk

Ich, Irina Jewgenjewna L., wurde am 3. August 1939 im Dorf Gribly im Gebiet Sharkovshchina, Bezirk Witebsk, geboren.

Jetzt wohne ich im Dorf Chist,   Bezirk Molodetschnenskij,  Gebiet Minsk.

Aus meiner Erinnerung möchte ich beschreiben, was während des Großen Vaterländischen Krieges geschehen ist und wie wir gelebt haben. Sobald der Krieg begann, kam ein Militärchef in unser Dorf: Sein Name Strukow (wie mein Vater mir sagte) hat sich in mein Gedächtnis eingeschrieben. Er versammelte alle Dorfbewohner im Freien und forderte alle Männer auf, zu den Partisanen zu gehen. Wer sich weigert, hat seine Familie zum letzten Mal gesehen …. Im Dorf blieben nur Frauen mit Kindern und alte Männer.

Ich erinnere mich daran, wie mein Vater und mein Bruder sich verabschiedeten, als sie weggingen: Meine Mutter weinte sehr, und ich weinte auch. Zu Hause blieben nur ich, meine Mutter und meine Großeltern. Dann, so erinnere ich mich, wurde unser Dorf sehr heftig bombardiert. Nachts war es besonders beängstigend. Mama schnappte mich und wir rannten zu einem Graben im Gemüsegarten. Um unser Dorf herum war alles voller Bombentrichter. Tagsüber versteckten wir uns in einem kleinen Wald hinter einem Hügel jenseits eines Ackers, auf dem etwas gesät worden war. Zuerst legten wir uns in die Furchen, und von dort krochen wir unter die Bäume. Und die Flugzeuge flogen direkt durch die Baumwipfel. Es war sehr beängstigend.

Da sich entlang unseres Dorfes ein großer Sumpf erstreckt und 2 – 3 Kilometer hinter dem Ende des Dorfes dichte Wälder bis an die Grenze zu den baltischen Staaten reichten, bestand der Verdacht, dass sich dort Partisanengruppen versteckten.

Als wir es in den Häusern nicht mehr aushalten konnten, ging die ganze Bevölkerung in den Wald. Wir versteckten uns im Wald: meine Mutter und ich, meine Großeltern und die Schwester meiner Mutter mit zwei Kindern. Leider sind sie schon gestorben.

Der Geruch der Blätter zu dieser Zeit bleibt ein Leben lang in Erinnerung. Es gab nichts zu essen. Wir bauten ein paar Hütten. Es war kalt.

Damals hat man unser Dorf niedergebrannt. Es war ein schrecklicher Anblick: Nur noch die Kamine waren übrig. Dann zogen wir irgendwie aus dem Wald in das Dorf Apashki Bol’shie, drei Kilometer von unserem Dorf entfernt. Wir wurden von einer Familie aufgenommen, einem Mann und seinem Sohn. Die Frau war durch die Bomben umgekommen. Als ich nach dem Krieg zur Schule ging, unterrichtete dieser Sohn in unserer Klasse Geografie. So ein Zufall!

Dieses Dorf wurde nicht niedergebrannt. Dann zogen wir aus irgendwelchen Gründen in das Dorf Proschki, das näher am Bezirkszentrum liegt. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange wir dort lebten. Die Leute halfen uns zu überleben, so gut es eben ging, denn es gab ja nichts zu essen.

Noch ein interessanter Zufall. Als nach dem Abschluss der Ausbildung zur Agronomin wurde ich eben diesem Hof zugewiesen, um als Agronomin zu arbeiten, und traf diese Frau wieder. Und ich war ihr sehr dankbar.

Als der Krieg zu Ende ging, begannen die Bewohner, die überlebt hatten, in das Dorf zurückzukehren. Nur ein grauer Haufen Asche war übrig davon. Ein Graus! Was jemand in der Erde vergraben hatte, war ebenfalls verbrannt.

Ich erinnere mich, dass meine Mutter schöne selbstgewebte Wolldecken gefaltet und in einem Fass vergraben hatte. Sie durchwühlten und verbrannten alles. Als ich in die Schule kam, nähte mir meine Mutter aus diesen (übrig gebliebenen) Stückchen eine Tasche für meine Hefte und Bücher. Es gab keine Schuhe. Im Dorf gab es einen ungelernten Schuster, der mir Stiefel mit einer Holzsohle anfertigte. Sie waren scheußlich!

Von der Front kehrten ungefähr zwanzig Prozent der Männer zurück, die das Dorf verlassen hatten. Die Jungen, die zurückkamen, waren alle Invaliden. Vater kam von der Front zurück; er hatte den linken Arm bis zur Schulter verloren. Ich erinnere mich, dass Mama ihn nicht behandeln konnte. Die Wunde blutete weiter, obwohl er nach dem Krankenhaus in der Stadt Daugavpils war.

Alle bauten sich selbst Wohnungen, so gut sie konnten. Manche lebten lange Zeit in Erdhütten, einige errichteten baufällige Behelfs-Unterkünfte. Es gab nichts zu essen. Wir sammelten gefrorene Kartoffeln, Reste von verbranntem Getreide, verschiedene Kräuter. Das Land wurde von Frauen mit eigener Kraft gepflügt, und wir haben auch etwas geholfen. Es ist schrecklich, sich an diese Zeiten zu erinnern, aber die Menschen versuchten zu überleben.

Kaum waren die Schrecken des Krieges vorbei, begann das Banditentum. Unser Dorf wurde von Banditen heimgesucht, meist nachts. Den Erzählungen zufolge waren sie meist Litauer. Sie forderten mit Nachdruck Nahrung (hauptsächlich Schinken), Geld und Pelze (Schafsfellmäntel), weil Winter war. Papa versteckte, was wir hatten, unter der Bettdecke und unter mir in meinem Bett. Und ich saß darauf und zitterte (vor Angst). Es war so furchtbar! Und sie haben das ganze Haus durchsucht: im Schrank, unter den Schlafplätzen.

Es gab Fälle, in denen Dörfer niedergebrannt und Schüsse abgefeuert wurden, damit nicht gelöscht werden konnte. Eines Tages töteten sie einen Vater und seinen Sohn. Dieser Sohn war Vorsitzender des Dorfrates und war mit seiner Frau zu seinen Eltern gekommen. Sie erschossen den Vater und seinen Sohn und steckten das Haus in Brand. Wie sich die Mutter und ihre Schwiegertochter retteten, weiß niemand. Und dann brannte das Dorf wieder ab. Da unser Dorf praktisch im Wald lag, war es für sie (die Banditen) leicht, sich zu verstecken.

Jetzt leben vier Familien in unserem Dorf:

1. A. Dmitri Wladimirowitsch (geb. 1931).
Alexandra N. B. (1932).

2. Dmitri Wladimirowitsch R. (1943).

3. B. Radion Konstantinowitsch (1943).

4.  B. Geronty Nikolajewitsch (1931 b.)   
Je. Galina Nikolajewna (1940) – lebt: Minsk

Nach dem Abschluss der Mittelschule Slobodsk ging ich auf das Landwirtschaftliche Technikum Marijnogorsk, danach studierte ich am landwirtschaftlichen Institut in Grodno. Ich arbeitete 36 Jahre lang als Agronomin. Jetzt bin ich Rentnerin.

Bitte bedenken Sie, mit welchen Problemen wir in der Kriegszeit zu kämpfen hatten.

Entschuldigen Sie, wenn ich nicht wohlgeordnet geschrieben habe. Ich habe versucht, mich an alles zu erinnern, aber ich war klein und konnte mir nicht alles merken. Wenn meine Eltern noch am Leben wären, könnten sie die im Krieg erlebten Schrecken genauer beschreiben. Ich erinnere mich, dass mein Vater viel erzählte, aber ich weiß es nicht mehr. Er war Invalide Zweiten, später Ersten Grades. Mein Vater wurde 1910 geboren und verstarb 1988. Ich bin ihm sehr, sehr dankbar.

Hochachtungsvoll, I.E. L.

14. 12. 2012

Übersetzung aus dem Russischen Karin Ruppelt