Grabowskij Anatolij Petrowitsch – Freitagsbrief Nr. 151

Gebiet Lugansk, Ukraine
März 2006

Guten Tag, sehr geehrte Damen und Herren aus der Bundesrepublik Deutschland,

Guten Tag, Mitarbeiter des Komitees „Verständigung und Aussöhnung“.

Es wendet sich an Sie Anatolij Petrowitsch Grabowskij, ehemaliger Häftling der deutschen KZ‘s [tatsächlich Stalags – Kriegsgefangenenstammlager. Die meisten ehemaligen Kriegsgefangenen bezeichnen die Stalags als KZ d. Übers.] und ukrainischer Einwohner. Ich benachrichtige Sie, dass ich am 06.02. 2006 Ihre humanitäre Hilfe von 300 Euro erhalten habe. Dafür bin ich sehr dankbar. Liebe Herren, diese Summe ist für einen Rentner eine große Hilfe. Das Geld werde ich ausschließlich für Medikamente ausgeben, weil die Medikamente bei uns sehr teuer sind. Meine Rente ist sehr klein und beträgt etwa 90-100 USD. Davon muss man Lebensmittel kaufen und Betriebskosten für Wasser, Strom und Heizung begleichen. Eine Tonne Kohle kostet inklusive Lieferung 80 USD. Eine Tonne Kohle verbraucht man bei diesem Wetter (Frost bis -30 Grad C) sehr schnell. So sieht unser Leben aus.

Ich habe zwei Söhne und zwei Töchter. Meine Töchter sind Rentnerinnen. Sie haben Enkelkinder. Alle haben eigene Familien. Die ältere Tochter lebt im Kreis Krasnodar, 600 km von uns entfernt. Ein Sohn lebt mit uns zusammen und arbeitet als Nachtwächter. Sein Lohn ist miserabel. Zudem wird das Geld unregelmäßig ausgezahlt. Meine Ehefrau, die Mutter unserer Kinder, ist Invalide der 2. Stufe. Sie ist Asthma- und TBC-krank. Sie hat lange Krankenhausaufenthalte. Wir haben also keine Gründe zur Freude.

Meine Herren, als ich den ersten Brief bekommen habe, wo Sie versprochen hatten, mir zu helfen, habe ich es meinen Bekannten und Verwandten erzählt. Das war im September 2005. Meine Verwandten und ich meinten, dass ich zum Jahreswechsel eine Hilfe erhalten könnte. Im zweiten Brief stand jedoch, dass es wegen bürokratischer Hindernisse zu einer Verzögerung bei der Auszahlung der Hilfsleistungen kommt. Man sagte in meinem Bekanntenkreis, dass es nur lose Versprechungen wären und ich am Ende gar keine Hilfe bekommen würde. Ich habe dagegen gesagt, dass die Deutschen die ehrlichste Nation in Europa und sogar weltweit sind. Sie erfüllen alle Versprechungen. Als Beispiel habe ich folgende historische Tatsache erwähnt: Als die Briten und Amerikaner deutsche Städte und Dörfer flächendeckend bombardierten, nahmen sie die ganze Infrastruktur unter Beschuss, auch Eisenbahnlinien und Autobahnen. Deshalb konnte das Brot nicht mehr regelmäßig in alle Lager geliefert werden. Wegen der zerstörten Straßen bekamen wir [nur] 120 g Brot täglich. Die Lieferverzögerungen dauerten 5-6 Tage. Nach der Wiederaufnahme der Brotlieferung bekamen wir das komplette Brot für alle Tage, bis zum letzten Krümchen. So ist die deutsche Nation. Als ein weiteres Beispiel möchte ich das Nachkriegsleben in der Ukraine nennen. Alle Lebensmittel waren damals nur nach Vorlage einer Lebensmittelkarte erhältlich. Die Karten wurden ständig umregistriert und mit neuen Stempel und Unterschriften versehen. Das bedeutete, dass die Regierung gegen die eigene Bevölkerung argwöhnisch war. Die da misstrauisch waren, waren selber Diebe! Wenn du es heute nicht geschafft hast, das Brot mit einer Lebensmittelkarte zu erhalten, hattest du morgen keinen Anspruch darauf. Es gab unglaubliche Warteschlangen. Ältere Frauen und Männer starben in den Geschäften und wurden weggebracht. Diejenigen, die es aus unterschiedlichen Gründen nicht geschafft haben, an einem bestimmten Tag das Brot zu erhalten, haben versucht, sich darüber beim Bezirksexekutivkomitee zu beschweren. Die Antwort lautete: „Ihr seid nicht tot. Ihr müsst euch darüber freuen und weiterleben!“

Uns haben Amerikaner befreit. Sie haben uns gut behandelt. Es gab reichlich Essen. Ich bin dafür dankbar. Als wir an die russischen Geheimdienste übergeben wurden, sprachen uns irgendwelche Geheimagenten an. Sie schlugen uns vor, im Westen zu bleiben und ein beliebiges Land als Wohn- und Arbeitsort auszuwählen. Ich habe dies abgelehnt. Ich wollte meine Mutter wiedersehen. Ich bedaure das mein Leben lang. Das war eine jugendliche Dummheit. Ältere Männer waren klüger. Viele sind im Westen geblieben. Ich habe also eine Chance gehabt, als normaler Mensch zu leben, die ich nicht benutzt habe. Das kann ich mir selbst nie verziehen.

Die Amerikaner haben uns also an die Russen übergeben. Was passierte danach, ist Ihnen, glaube ich, bekannt. Verhöre, Gegenüberstellungen und unendliche Fragen „Wie bist du in Gefangenschaft geraten?“, „Warum passierte das?“, „Wer war noch dabei?“… In der Ukraine wurde ich noch ein ganzes Jahr schikaniert. Es gab wieder Verhöre. Wenn man während einer Vernehmung ein einziges Wort sagt, dass mit der Aussage im Laufe der vorigen Vernehmungen nicht übereinstimmt, bist du als Feind attestiert. Als Folge gab es zehn Jahre Haft in Sibirien.

Liebe Herren, ich werde mein Leben in den deutschen Lagern nicht beschreiben. Das war schrecklich. Die russischen Gefangenen hatten kein Recht auf Hilfe von der Seite des Roten Kreuzes, denn Stalin hatte gesagt, dass er keine Kriegsgefangenen, sondern nur Volksfeinde habe. Die Briten, Amerikaner und andere waren dagegen gut versorgt. In Kriegsgefangenschaft habe ich verschiedene Arbeit geleistet, auch landwirtschaftliche Arbeit. Vor allem wurden wir aber für die Trümmerbeseitigung nach den Bombenangriffen eingesetzt. Wir haben auch Panzerschutzgräber in Österreich gegraben. Sie waren lang und tief und verliefen von einem Hügel bis zum anderen. Ich möchte folgendes sagen. Es gibt in europäischen Städten sehr schlechte Menschen. Das sind die Madjaren, die Ungarn. Als wir über eine Donaubrücke geführt wurden, haben die ungarischen Frauen in unsere Richtung gespuckt. Die Jungen haben uns mit Steinen beworfen. Ich kann nicht verstehen, warum sie uns so stark gehasst haben. Was hat damals Russland in Bezug auf ungarische Bevölkerung schlecht gemacht. Es ist unklar.

Als ich eine Bankbenachrichtigung für den Erhalt Ihrer Spende erhalten habe, dachte ich mir, dass in der Bank eine lange Warteschlange stehen müsste. Als ich die Bank besuchte, sagte man mir, dass ich mich an den Oberbuchhalter wenden soll. Ich habe eine Frage gestellt, ob bereits alle Alten das Geld erhalten haben, weil die Bankempfangshalle leer steht. Der Buchhalter erklärte, dass ich der zweite Geldempfänger in unserer Stadt bin. Der erste Mann mit Jahrgang 1921 sei noch nicht erschienen, obwohl eine Benachrichtigung verschickt würde. Vielleicht ist er schwer krank oder schon tot.

Vielen Dank für Ihre schwere und zeitaufwendige Arbeit! Vielen Dank den Kindern der ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen, allen Bürger Deutschlands und Mitarbeitern Ihres Komitees.

Ich wünsche Ihnen beste Gesundheit, viel Glück und ein langes Leben.

Anatolij Petrowitsch Grabowskij