Elena Grigorjewna St. – Freitagsbrief Nr. 200

Die letzten Zeilen des Briefes beziehen sich auf die humanitäre Auszahlung durch die deutsche Stiftung “Erinnerung, Verantwortung und Zukunft” in den Jahren 2001 bis 2006, die so genannte “Zwangsarbeiterentschädigung”. Ende der Antragsfrist war im September 2001, das Lager in Minsk wurde als “andere Haftstätte” anerkannt.

Belarus, Gebiet Moiljow
Januar 2022

Sehr geehrte Mitarbeiter des Vereins KONTAKTE Gottfried Eberle und Sibylle Suchan-Floss!

Elena Grigorjewna St., geboren 1935, …, schwerbehindert, schreibt an Sie. Ich antworte auf das Schreiben von KONTAKTE. Ich spreche Ihnen persönlich meine aufrichtige, große, menschliche DANKBARKEIT aus und wünsche IHNEN gute Gesundheit, Ihren Familien – Erwachsenen und Kindern – und dem ganzen deutschen Volk – Glück, Freude, Wohlstand, Frieden und alles Gute! Ihr Geschenk – 300 Euro habe ich im Dezember erhalten, und Ihr Brief kam am 14.01.22. Ich DANKE Ihnen von ganzer Seele, ganzem Herzen und in meinen Gedanken. Ich wünsche mir, dass die Bewohner unserer Länder und auch des gesamten Planeten nie Kriege erleben und lange, friedlich und glücklich leben werden!

Und nun werde ich kurz ein paar Episoden aus meiner schrecklichen, traurigen Kindheit im Krieg beschreiben.

Als die Deutschen auf neuen Motorrädern mit Beiwagen in unserem Dorf B., Gebiet Mogiljow ankamen, jagten sie uns aus dem Haus (dem großen und neuen), nahmen uns die Kuh, den Eber, die Hühner, den Speck, die Eier weg – alles wurde weggenommen, und wir wurden in den Sumpf hinter dem Garten getrieben. Als mein Vater (ein Kriegsinvalide, dem zwei Rippen herausoperiert worden waren) eine zerrissene Strohmatratze holen wollte, schossen sie auf ihn, aber er brachte uns die Matratze. Und als er sie auf den Boden warf, sahen wir, dass mein Vater grau geworden war. Er starb 1945, meine Mutter und meine Schwester Maria erkrankten an Flecktyphus.

Die Erwachsenen wurden gezwungen, Schützengräben auszuheben. Im Garten gab es Kartoffeln, die Erwachsenen gruben sie aus, brieten sie über dem Feuer, aßen sie und tranken Wasser aus der Quelle.

Dann wurden alle Bewohner mit dem Sprachrohr zur Registrierung zusammengerufen und mit Maschinenpistolen und Hunden nach Radutschi, 3,5 km, zu einer großen Holzscheune mit Strohdach getrieben; das Tor wurde aus den Angeln gehoben, Krampen eingeschlagen, unbearbeitete Tannenruten und Benzinkanister herbeigeschafft: Sie wollten am Morgen alle verbrennen. Alle wurden mit Maschinengewehren und Hunden bewacht. Und plötzlich, am Morgen, kommt ein schöner junger Offizier auf einem kräftigen deutschen Pferd, trägt eine Offiziersuniform mit einem Kreuz auf der Brust und sagt mit einem Lächeln ein Wort: “Kommando zurück!“. Alle (300 Personen) mussten vom Boden aufstehen, und sie wurden mit Maschinenpistolen in das Konzentrationslager in Mogiljow (77 km), in die Versammlungshalle im Erdgeschoss des Bauarbeiterklubs in der Perwomajskaya Straße, getrieben. Es lag Stroh auf dem Boden (die nächsten beiden Zeilen sind nicht zu entziffern). Die Menschen wurden krank. In der Baracke lagen 600 Menschen auf dem Stroh. Die Erwachsenen wurden an den Dnjepr getrieben, um Schützengräben auszuheben; wir bekamen jeden Tag eine Brühe aus Steckrüben ohne Salz und ein Stückchen “Brot” mit Sägespänen, das wir essen mussten; es kratzte im Mund, aber wir schafften es, es im Mund zu behalten und unbemerkt auszuspucken.

Dann kamen acht Autos und sortierten die Leute nicht nach Familien, sondern nach Kategorien. Die ersten, die weggebracht wurden, waren Männer, dann Jugendliche, dann Kinder, dann Frauen und schließlich die Kranken und Alten. Alle Autos fuhren in unterschiedliche Richtungen (je nach Ziel).

P.S. Wir erkrankten an Flecktyphus und wurden in ein Quarantänehaus geschickt. Zwei Tage lang bekamen wir kein Essen und kein Wasser, und am Morgen sollten wir erschossen werden: 2 Maschinengewehrschützen standen auf der Veranda. Es war ein Wunder, dass wir gerettet wurden! Wir saßen noch zwei Tage lang hungrig in dem dunklen Keller, und als sie die Wachen abriefen, ließen sie uns heraus.

Wir waren: meine Mutter, meine Schwester Maria, ich und mein Bruder Wiktor. Meine Mutter ging mit uns zu den Leuten, um wenigstens eine Brotkruste zu erbetteln. Da sie der deutschen Sprache nicht mächtig war und die Namensschilder an den Gebäuden nicht lesen konnte, ging sie in die deutsche Kommandantur und ließ mich in der Nähe eines Pumpbrunnens an einer Eisrutsche zurück. Ich kletterte die Eisrutsche hinauf und hielt mich am Brunnenschwengel fest. Meine Mutter bekam dort nichts, und eine schöne große Frau in einem schwarzen Kleid stieß sie die Treppe hinunter (ungefähr 10 Stufen). Mutter rutschte die Treppe hinunter, und die Frau öffnete das Fenster und hetzte einen Schäferhund auf mich. Der kam mit ein paar Sprüngen auf mich zu. Ich lag auf dem Rücken, und auf das Kommando “Fass!” fing er an am Knoten meines Kopftuchs zu zerren. Meine Mutter rannte um mich herum, schrie und fuchtelte mit den Armen, aber sie konnte mich nicht wegziehen. Und die Frau kommandierte: “Fass!” – Sie wollte, dass der Hund mich vor den Augen meiner Mutter zerfleischt. Da kam eine Frau mit zwei Eimern an einem Joch angerannt und fing an, den Hund zu schlagen. Meine Mutter schaffte es, mich zu packen und hinter eine Scheune zu fliehen, und die Besitzerin des Hundes schoss auf die Frau, die zu Boden fiel. Ich kenne ihr Schicksal nicht, aber sie hat mir das Leben gerettet!

Und unser erstes Haus wurde während des Rückzugs bis auf die Grundmauern niedergebrannt, wie fast das ganze Dorf.

Über die Tatsache, dass wir im Konzentrationslager in Mogiljow waren, konnte meine Schwester Kaschitza / unleserlich(?) / Tsch. Marija Grigojewna, die bei ihrer Tochter Swetlana Trofimowna in Grodno lebte, noch rechtzeitig schreiben (sie hatte ihre Mutter zu sich genommen, weil diese erblindet war), und man schickte ihr 800 Euro. Sie lebt jetzt nicht mehr, aber sie schrieb meinem Bruder Wiktor und mir, wir sollten auch nach Minsk schreiben. Man antwortete uns: “Die Fakten wurden bestätigt, aber Sie haben die Frist nicht eingehalten.“

[…]

Eine stabile Gesundheit, Freude, Glück und alles, alles Gute Ihnen.

Bobrujsk, Elena Grigor’ewna St.

Übersetzung: Karin Ruppelt und Igor Makarow