Berta Waisburg – Freitagsbrief Nr. 64

Ukraine, Mogilew Podolskij

1.3.2010

Ich, Berta Waisburg, bin Jüdin sowohl mütterlicher- als auch väterlicherseits. Als der Krieg begann, war ich zehn Jahre alt. In jenem Sommer war ich in einem Ferienlager. An diesem Sonntag ging das ganze Lager zu einer Zirkusvorstellung in einen Wanderzirkus, der in unserer Stadt gastierte. Die Vorstellung war noch nicht zu Ende, als wir alle nach Hause geschickt wurden. Zu Hause packten meine Eltern für die Abreise. Ein paar Familien liehen sich zusammen einen Karren, auf den wir unsere Sachen packten, was wir eben mitnehmen konnten, dann gingen wir los. Als wir aber in den Ort Czernowitz kamen, wurde mein Vater in die Armee eingezogen. Meine Mutter und ich blieben alleine bei unbekannten Menschen zurück und beschlossen, zurück nach Hause zu fahren. Gegen Morgen tauchten die ersten deutschen Motorradfahrer auf und fragten uns nach dem Weg nach Borowka. Auf dem Weg nach Hause ins Dorf Skasinzy wurden wir von einer rumänischen Patrouille angehalten. Sie brachten uns in einen Raum, in dem schon viele Juden aus Mogilew waren. Meine Mutter, die im Dorf Nemija aufgewachsen ist, begann sich zu bekreuzigen und sagte, dass wir Ukrainer seien, wir wären auf dem Weg ins Dorf, um Sachen gegen Lebensmittel zu tauschen. Sie glaubten ihr und wir wurden getrennt von den anderen untergebracht. Nachts kamen Deutsche, die alle erschossen, uns aber ließen die Rumänen laufen. Wir rannten so schnell die Straße entlang, dass sie uns nicht hätten einholen können, auch wenn sie es gewollt hätten; wir waren von Todesangst getrieben. In Mogilew wohnten wir einige Zeit in unserem Haus, es war sehr kalt und wir mussten hungern, ich erkrankte an Flecktyphus. Dann kamen rumänische Juden. Sie lebten in unserem Haus, halfen uns, nach einer Überschwemmung aufzuräumen, gaben uns Kleidung, denn als wir weg waren, waren unsere Sachen alle geplündert worden. Meine Mutter ging arbeiten. Als das Ghetto eingerichtet wurde, wurden wir aus unserem Haus getrieben, unsere Straße befand sich nicht im Ghetto. Wir schliefen im Keller des ehemaligen Schulgebäudes. Dann begannen die Deportationen ins Lager „Petschora“, meine Mutter und ich waren gleich im ersten Transport.

[An dieser Stelle scheint eine Seite im Brief zu fehlen]

Wir liefen zusammen. Dann fanden meine Mutter, ihre Schwester und ihre Kinder auf der Rybnaja-Straße eine halb verfallene Hütte, sie sammelten Bretter in den zerstörten Häusern zusammen, vernagelten damit die Fenster, bauten Pritschen, sammelten alte Sachen aus den verlassenen Häusern zusammen und dort lebten wir dann, bis unsere Armee kam und die Stadt befreite. Jeden Morgen gingen Mutter und ihre Schwester zur Arbeit, das war ganz wichtig, erstens bekamen sie für die Arbeit 200 Gramm Brot, und wir Kinder gingen auch mit den Eltern mit, damit wenigstens auch ein kleines Stück für uns abfiel. Aber im Winter war es sehr schwer, wir hatten keine warme Kleidung, wir waren geschwächt, abgemagert und krank. Es gab auch solche Ukrainer, die unter Lebensgefahr Juden vor dem Hungertod retteten, sie halfen uns, gaben Brot, Mehl, Kartoffeln.

Es gab Familien, denen es besser ging, die es schafften, auf dem Markt Handel zu betreiben, sie buken Brot und verkauften es oder machten Stiefel für die deutschen Offiziere; diese Familien litten keinen Hunger. Der Vater meiner Mitschülerin Hanna war ein sehr guter Schuster, die Familie lebte gut und Hannas Eltern gaben mir nach Möglichkeit auch etwas zu Essen und ein Stück Brot für zu Hause.

Einmal gerieten meine Mutter und ich in eine der Razzien, eine Verwandte versteckte uns im Keller unter Fässern. Der Polizai, der zuerst in den Keller kam, sah uns, aber er war ein ehemaliger Klassenkamerad meiner Mutter und er verriet uns nicht. So entgingen wir zum zweiten Mal dem Lager und blieben am Leben, denn aus diesem Transport ins Lager wurden alle ohne Ausnahme erschossen.

Ich weiß noch, dass meine Mutter und ich oft in der Rynaja-Straße in ein kleines Haus gingen, in dem sich oft Menschen versammelten und miteinander sprachen. Dort war oft ein alter Mann, den alle den „Bärtigen“ nannten. Die Erwachsenen unterhielten sich und wir hörten zu. Wir waren aber auch schon erwachsen geworden, wussten, dass wir unsere Zunge hüten mussten, sonst wären wir verloren gewesen.

Eines Tages hörten wir Schüsse, alle versuchten, möglichst wenig nach draußen zu gehen, es hieß, die unsrigen seien nicht weit. Die Deutschen verließen schnell durch die Stadt, die Rumänen sperrten die Brücken und versuchten, mit dem Erbeuteten zu fliehen. Die Freude war unbeschreiblich, als die ersten sowjetischen Soldaten auftauchten, der erste sowjetische Panzer. Der März 1944 war für uns ein großes Fest – die Befreiung. Natürlich war es in der Nachkriegszeit auch oft schwer, aber das betraf Arbeit, Wiederaufbau, Ausbildung.

Mit den besten Grüßen

Berta Wajsburg

Aus dem Russischen von Valerie Engler