Baranaw Wassil Michailawitsch – Freitagsbrief Nr. 91

Dieser Brief ist ein Zeitungsartikel, den wir  2007 erhielten, er wurde erst fast zehn Jahre später übersetzt. Herr Baranaw war nicht in deutscher, sondern in finnischer Kriegsgefangenschaft, wir haben aber bei unserer Begünstigung keinen Unterschied gemacht, da es auch in Finnland Stalags der Wehrmacht gab und es sich nur um sehr wenige Personen handelte. Es wäre kaum zu erklären gewesen, dass wir die einen anerkennen, die anderen nicht. Rudnja, das Dorf aus dem er stammt, gehört zu den verbrannten Dörfern in Belarus, deren Überlebende der deutschen Kriegsverbrechen wir derzeit begünstigen.

Baranaw Wassil Michailawitsch
Belarus,  Gebiet Mogilew

Artikel aus „Leninskaje slowa“ ( Russisch = „Leninskoje slowo“ = „Lenins Wort“
Zeitung des Landkreises Slawgarad, Gebiet Mogiljow /Belarus, erscheint in belorussischer Sprache, heißt seit 2006 „Pryssoshski kraj“ – Land am Fluss Ssosh)

UND ES KAM EINE GEFALLENENMELDUNG FÜR DEN SOHN …

Der Artikel ist unterzeichnet von: V. Kamandsenka Leiterin der Ländlichen Bibliothek in Rudnja

Menschliche Schicksale

Mit Wassil Michailawitsch Baranaw treffe ich ziemlich oft zusammen: Hin und wieder im Stadtbus, öfter jedoch im Dorf Michailow, wo er jetzt lebt. Dann unterhält man sich meist über Dinge des Alltags. Da erinnerten wir uns z.B. daran, was für leckere Torten und Semmeln er früher gebacken hat. Noch heute kitzelt dieser Duft in der Nase. Wie viele Preise hat dieser Meister im Bäcker- und Konditorhandwerk errungen? Es scheint, allzu lang ist das nicht her. Aber wie lang schon ist Wassil Michailawitsch im verdienten Ruhestand. …

Einmal bat ich ihn vom Krieg zu erzählen. Die Erinnerung daran fiel ihm nicht leicht. Vieles ist ihm entfallen, manches jedoch, so sagt er, vergisst man nie. Die Erinnerungen an die Wunden werden in jedem Jahr häufiger – und jetzt ist er schon 85. Immer empfindsamer wird das Gedächtnis in der Erinnerung an das Durchlebte. Er hat ausgehalten, durchgehalten, ist am Leben geblieben. Selbst als die Gefallenenmeldung kam und die Eltern eine Rente bekamen für den gefallenen Sohn …

Geboren ist W. Baranaw im Dorf Nowaja Slabada (russ. Nowaja Sloboda) in einer bäuerlichen Großfamilie. Als er 13 war, zog der Vater mit der Familie in das Gebiet Swerdlowsk, um die Familie durchzubringen. Arbeit fand er in Kupferbergwerken. Auch Wassil wurde Bergarbeiter. 1940 wurde er eingezogen, war 2 Monate zur Ausbildung in der Regimentsschule in Udmurtien, danach wurde er in den Kaukasus geschickt, nach Armenien, wo er bis 1941 diente. Dort lernte er auch das Kochen. Unmittelbar vor Kriegsbeginn kam die Dienstversetzung nach Leningrad, in ein Flakscheinwerferregiment. Dort ereilte ihn der Krieg. Wassil Michailawitsch wurde nicht nur Scheinwerferführer, sondern auch ein guter Sanitäter. Die feindlichen Truppen näherten sich Leningrad, nebenan war die finnische Grenze. Die Scheinwerferführer kamen nicht zur Ruhe: Feindliche Flugzeuge bombardierten die Zugänge zu Leningrad bei Tag und Nacht. Sanitäter waren rar. Einmal wurde Wassil Michailawitsch zum Stab gerufen, wo er einem verwundeten Finnen helfen sollte. Ein anderes Mal brachte man verwundete deutsche Flieger. Die gefangenen Deutschen benahmen sich anmaßend, aber als man sie sozusagen in die Enge trieb, packten sie aus, erzählten von ihren wichtigen Objekten. Die konnten unsere Flugzeuge dann mit gezielten Angriffen vernichten.

Während eines schweren Kampfes fielen damals viele seiner Freunde.

Wassil Michajlawitsch erlitt ein schweres Schädelhirntrauma, seine Hand wurde verwundet, ohne Bewusstsein geriet er in Gefangenschaft.

Das war der Anfang seines endlos langen Umhergetriebenseins. Als er wieder zu sich kam hörte er eine fremde Sprache. Ein junger finnischer Arzt untersuchte seine Hand und behandelte sie gewissenhaft. Untergebracht waren die Kriegsgefangenen in einem Stall mit 2-stöckigen Pritschen, dicht gedrängt wie in einem Heringsfass. Sie arbeiteten in Steinbrüchen, beim Straßenbau. Schwere, Kräfte zehrende Arbeit. Viele der Gefangenen starben an den Verwundungen und vor Hunger. Und dann die Verpflegung! Wassil Michailawitsch erinnert sich: „Glauben Sie mir, nicht mehr als 40 Kilo habe ich damals gewogen. Und nicht nur mir ging es so. In einem erbitterten Seegefecht erlitten die Finnen ungeheure Verluste. Wir Gefangenen wurden plötzlich verlegt. Nicht genug, dass man uns mit Hunger quälte und uns Pökelfleisch gab, die unerträgliche Kälte kam noch dazu.

Einmal kam ein finnischer Bauer ins Lager, um sich unter den Gefangenen Arbeiter auszusuchen. Nun musste Wassil Michailawitsch auf 40 Kühe aufpassen und Milchprodukte herstellen. Die Milch wurde etwa 1 km weit zur Hauptstraße gebracht, die vollen Milchkannen abgestellt, dann ging es zurück zum Bauernhof. Niemand nahm etwas weg und die leeren Behälter bekam der Bauer zurück.“

Während der Arbeit beim Großbauern konnte sich Wassil Michailawitsch die fremde Sprache gut aneignen und las auch die dortige Zeitung. Vor dem Krieg hatte er die 7-Klassen-Schule in Prapoisk besucht. Damals lernten sie Lateinschrift, somit waren ihm die finnischen Schriftzeichen verständlich. Die Zeitungen schrieben vom Vormarsch der Russen. Das wurde mit Freude aufgenommen und alle warteten auf die Befreiung. Die kam dann. Zu dem Bauern kam eines Tages ein Offizier der Roten Armee, der sich nach den Kriegsgefangenen erkundigen wollte. Wassil Michailawitsch stellte sich als Russe vor. Darauf der Offizier: „Warum schwindelst Du, Du bist doch Weißrusse.“

Alle Gefangenen wurden abgeholt und in die Heimat gebracht. Nur nach Hause kam er erst geraume Zeit nach Kriegsende.

In einem Lager bei Tula gab es viele, denen es wie diesem Gefangenen ergangen war. Wie Tausende ehemalige sowjetische Kriegsgefangene musste auch er seelische Erniedrigung erfahren.

Später galten andere Maßstäbe, alle wurden rehabilitiert. Über die Kriegszeit spricht er nicht gern, zutiefst schmerzt diese Last.

Die Jahre vergingen. Durch nichts lässt sich der Verlust der Gesundheit kompensieren.

Auf meine Frage, wie es ihm gelang zu überleben, antwortet der Veteran geradeheraus „Meine ländliche Herkunft hat mir geholfen; meine Jugend und meine stabile Gesundheit.“

1946 kam W. Baranaw nach Hause. Bald lernte er seine künftige Frau kennen. Und dann übte er einen ganz friedlichen Beruf aus – den des Konditors. Die Einwohner von Slawgarad erinnern sich bis heute an diesen bescheidenen Mann, der mit seinen schmackhaften Erzeugnissen vielen Menschen Freude brachte.

Übersetzung aus dem Belarussischen Sibylle Albrecht