Anatolij Prokofjewitsch Kowalewskij – Freitagsbrief Nr. 141

Belarus, Gebiet Grodno

Dieser Brief ist die Fortsetzung des Freitagsbriefs 248 aus dem Jahr 2011, der hier gelesen werden kann. Anatolij Prokofjewitsch Kowalewskij aus dem Gebiet Grodno in Belarus schickte uns 2010 seine Lebenserinnerungen, die er für seine Enkel und Urenkel aufgeschrieben hatte. Wir werden den Bericht über die Kriegsgefangenschaft in den Lagern der Wehrmacht in mehreren Teilen als Freitagsbriefe veröffentlichen. Das Lager, aus dem er zu Beginn des heutigen Abschnitts berichtet, ist das Stalag 343 Alytus in Litauen im Januar 1942.

Im Lager brach ein Massensterben aus, ein Litauer brachte mit zwei Pferden die Toten aus dem Lager zu einer Grube, jedes Mal etwa 50 Leichen. Es gab ein spezielles Kommando, das ihm dabei half, die Toten aufzuladen. Als die Leute vom Kommando von der Arbeit zurückkamen, erzählten sie uns, der Litauer habe gesagt, es gebe die Anweisung, die Gefangenen zu den Bauern zu bringen. Viele glaubten daran und hofften, bis zu diesem Zeitpunkt am Leben zu bleiben. Wenn man darüber nachdenkt, dann war derjenige, der sich diese Geschichte ausgedacht hat, ein guter Psychologe: er gab den Menschen Hoffnung. Eine Zeit lang funktionierte die Geschichte, aber dann hörten die Leute auf, an diesen Traum zu glauben, der sich nicht erfüllen wollte. Im Lager griff der ständige „Freund“ des Krieges um sich – Typhus. Die Gefangenen starben zu Hunderten! Im März wurde auch ich krank. Ich war etwa eine Woche lang ohne Bewusstsein. Mein Freund tauschte meine Ration Brot gegen einen Becher Wasser und gab mir zu Trinken. Als ich wieder zu mir kam, war ich unendlich schwach und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Die Zahl der Gefangenen im Lager war sehr zurückgegangen. Die Deutschen betraten das Lager nicht mehr – Typhus. Sie warfen Brot und Kartoffeln über den Zaun, und auf der anderen Seite übernahmen ihre Polizai-Leute das Kommando, so wie es ihnen gefiel.

Im Frühjahr 1942, als noch 1800 Gefangene in unserem Lager waren – im Herbst waren es mehr als 24 000 gewesen – wurden wir mit dem Zug in ein Zentrallager in Sachsen [offensichtlich Stalag 304 Zeithain] gebracht. Dort herrschte eine ganz andere Ordnung: morgens beim Wecken gab es Brot und Tee, dann mussten alle auf den Platz. Unter Mithilfe der Polizai [aus Kriegsgefangenen rekrutierte Lagerpolizei d.Übers.], die dort hohes Ansehen genossen, wurden wir zu einer Kolonne formiert, mussten marschieren und verschiedene Soldatenlieder singen – ganz als hätten wir eine lustige Zeit. Außerdem wurden wir einige Male in der Kolonne zur Bahnstation getrieben und mussten dann von dort Platten für die Baracken zurück zum Lager schleppen, das waren drei Kilometer. Bald wurde ein Kommando von 180 Personen zusammengestellt und in ein separates Gebäude gebracht, umgeben von einem Stacheldrahtzaun, daneben waren zwei Bretterbaracken, in einer von ihnen waren die Küche und weitere Hauswirtschaftsräume. Dort mussten wir an der Eisenbahnlinie arbeiten. Unser Werkzeug waren Spitzhacke und Schaufel, unser Vorarbeiter war ein Tscheche, der auch die Leitung über unsere Brigade mit 24 Personen hatte. Unser Brigadier war der Ukrainer Iwan, ein hochgewachsener Mann von etwa vierzig Jahren. Unsere ständigen Begleiter waren außerdem zwei Wachsoldaten, die sich abwechselten. Um sechs Uhr war Wecken, dann bekamen wir eine Ration Brot und Tee für sechs Personen, dann ging es – zu Fuß oder per Zug, je nachdem, wo wir arbeiteten – zur Eisenbahnlinie. Zum Mittag brachten sie uns Balanda, jeder bekam eine kleine Schüssel – die Schüsseln trugen wir immer bei uns. Bei dieser Verpflegung und der Arbeit waren nach zwei Monaten nur noch 120 Personen in unserem Kommando übrig, die restlichen hatte man ins so genannte Lazarett gebracht, wo sie, die völlig Abgezehrten, bald ihr Leben aushauchten. Die Reparaturarbeiten an der Bahnlinie bedeuteten schwere physische Arbeit: Wir mussten eine Zugwinde von 50 kg schleppen, um die Gleise anzuheben und dann mussten wir per Spitzhacke das Gleisbett mit Steinen auffüllen. Aber ehrlich gesagt war diese Arbeit trotz allem viel besser als das, was unsere Gefangene in den Bergwerken leisten mussten, in verschiedenen Fabriken und anderen Werken mit gesundheitsschädlicher Arbeit.

Der Sommer 1942 ging zu Ende, der Herbst kam und in unserer Küche tauchten anstelle von Kürbis und Kohlrabi Kartoffeln in der Suppe auf. Trotzdem blieb das ständige Hungergefühl. Auf dem Lagergelände gab es einen Keller, wo die Deutschen die Kartoffeln lagerten, – und einige Gefangene öffneten die Luke, ließen sich in den Keller hinab, griffen sich Kartoffeln und kamen wieder hoch. Auch ich tat es ihnen nach, um auf diese Weise meine Verpflegung aufzubessern. Ich hatte einen Freund, Iwan aus Sibirien, der für uns beide die Kartoffeln kochte. Aber alles Gute hat mal ein Ende. Einmal ließen wir uns wieder zu mehreren in den Keller hinab, und hinterher kamen – unsere Polizai-Leute. Sie waren zu Dritt, dazu der Übersetzer Sajzew und dann gab es einen Gehilfen der Polizai, den Sanitäter Fjodor. Sie schnappten uns, die anderen kamen mit dem Schrecken davon; aber mich wollte diese Bande aus irgendeinem Grund wohl fertig machen. In den Baracken gab es dreistöckige Pritschen, mein Platz war auf der zweiten Etage. Ein Polizai namens Mischka kam zu mir, er war ein kräftiger und gesunder Bursche, der so um die 90-100 kg auf die Waage brachte, und er hatte Kontakt zu den Deutschen. Mischka packte mich am Bein und zog mich von der Pritsche – von zwei Meter Höhe. Alle Zimmergenossen schrien ihn an: Was machst du denn da?! Als ich sah, dass er mich herunterziehen wollte – unten war Zementfußboden – kletterte ich selbst herunter. Er hatte einen Stock in der Hand (den Griff einer Schaufel), und mit diesem Werkzeug fuchtelte er herum und wollte mir auf den Kopf schlagen. Ich hob instinktiv die Arme schützend über den Kopf und bekam einen Schlag auf den rechten Arm ab. Augenblicklich hing mein Arm wie eine Peitsche herab und der Ellbogen lief vom Bluterguss blau an. Alle meine Freunde waren wütend auf Mischka, aber gegen seine einflussreiche Bande konnten sie nicht an. Als wir am nächsten Morgen zur Arbeit gingen, konnte ich meinen Arm nicht mehr heben, er war ganz schwarz, von der Schulter bis zum Ellbogen. Ich ging zum Vorarbeiter und zeigte ihm meinen Arm – ich sagte, ich sei hingefallen – er schüttelte den Kopf und sagte: die Spitzhacke kannst du nicht halten, also wirst du die Zugwinde schleppen – ein halber Zentner Gewicht. Man könnte fragen, warum ich gesagt habe, ich sei gefallen? Wenn ich die Wahrheit gesagt hätte, so hätte die Geschichte über die Deutschen wer weiß wie enden können. Die Polizai hatte ihre Kontakte – bis hinauf zum Kommandeur – deshalb hatte ich Angst, dem Vorarbeiter alles zu erzählen. Die ersten beiden Tage halfen mir die anderen dabei, die Winde zu schleppen, dann musste ich diese Arbeit alleine mit der linken Hand machen. Am gleichen Tag trat ich nach der Arbeit ans Fenster, um meinen Teller Suppe abzuholen, da stand dieser Mischka und gab die Anweisung, mir keine Suppe zu geben; ich aß dann bei einem Freund Suppe aus einem Teller. Einige Zeit später kam ein anderer Polizai, Fjodor, angelaufen und sagte zu mir: Komm mit mir, du sollst dich melden! Ich ging mit ihm, er führte mich in eine neue Baracke, in der es außer ein paar Bänken nichts gab, dabei war es ein großer Raum. Wir wurden schon erwartet: der Polizai Mischka stand dort, mit einem Kabel in der Hand, der Dolmetscher Sajzew und noch zwei ihrer Helfer. Sei stellten eine Bank in die Mitte des Raums und Mischka befahl mir: Leg dich hin. Ich kam seinem Befehl natürlich nicht nach und wollte weggehen. Da packten sie mich und warfen mich auf diese Bank. Einer von ihnen setzte sich auf meine Beine, ein anderer auf den Kopf. Mischka ließ das Kabel auf meinen Rücken herabsausen. Heute wie damals wundert es mich, woher ich so viel Kraft hatte, um zwei meiner Henker zur Seite zu werfen und dann davonzurennen. Ich rannte bis zur Tür, dort holten sie mich ein und warfen sie mich zu Boden, ich stand wieder auf, sie rannten mir hinterher, wieder warfen sie mich nieder und traten mich mit den Füßen. In diesem Moment kam ein Deutscher herein und schrie die Bande an: „Was machen Sie?” – „Alles weg!“ – „Antreten nach Kino!“ [Original Deutsch d. Übers.] Das hat mir das Leben gerettet. Zwei Wochen lang schlief ich im Sitzen – ich war überall mit Blutergüssen übersät und konnte nicht liegen.

Einen Monat später kam dann das Gerücht auf, dass unser Lager ins Zentrallager überführt werden sollte, und dass in unserem Gebäude Italiener untergebracht würden. Das war zu dem Zeitpunkt, als Italien sich weigerte, weiter Deutschlands Verbündeter zu sein. Man erzählte sich bei uns im Lager, dass man im Nachbarlager, dessen Insassen schon früher ins Zentrallager überführt worden waren, die bestialischen Polizai, die die Gefangenen gequält und verprügelt hatten, in die Toilette geworfen hatte. Da bekamen es auch unsere Parasiten mit der Angst. Der Polizai Fjodor, der mich zusammen mit Mischka misshandelt hatte, kam zu mir und sagte:

„Verzeih uns bitte, wir wollten dich nicht verprügeln, es ist einfach so gekommen.“ Aber nach ein paar Tagen verließ diese ganze Meute von 25 Leuten unser Lager und kam in ein gesondertes Lager, ohne vorher im Zentrallager gewesen zu sein. Sie waren nicht so angezogen wie die anderen Gefangenen, sondern wie Oberoffiziere. Später erfuhren wir, dass der Lagerkommandeur bei ihrer Ankunft im anderen Lager anordnet hatte, ihnen die Kleidung wegzunehmen und ihnen die gleiche Kluft auszugeben wie uns, nämlich dunkelblaue Hosen und Jacken, auf denen auf Brust und Rücken mit weißer Farbe „SU“ stand. Das bedeutete „Sowjetunion“ [Original Deutsch d.Übers.].

Aus dem Russischen von Valerie Engler

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