Varvara Semyonovna P. – Freitagsbrief Nr. 233

Belarus, Bobruysk

2. April. [2023 d. Übers.]

Ich bin Varvara Semyonovna P.. Ich wohne in Bobruysk. Geboren wurde ich am 12. August 1938 im Dorf Kostry, Kreis Lyubonitskij im Bezirk Kirow. An den Beginn des Krieges kann ich mich nicht erinnern, aber an sein Ende sehr gut. Unsere Nachbarn wohnten uns gegenüber; ihr Sohn war Partisan. Einmal rannte er auf der Flucht vor der Polizei [lokale Kollaborateure/d. Übers.] in unser Haus, versteckte sich auf dem Ofen unter den Sachen, die dort lagen. Der Polizist stieß mit seinem Gewehr nach ihm, bemerkte ihn aber nicht, und verhörte schließlich meine Mutter, wo sie den Partisanen versteckt habe. Mutter sagte, sie habe ihn nicht gesehen. Dann nahm der Polizist meine Mutter mit auf den Hof und schrie, dass er uns alle umbringen würde. Wir weinten. Da kam ein Deutscher angerannt und brachte den Polizisten weg.

Ein zweiter Vorfall. Die Deutschen versammelten alle Frauen und Kinder an einem Ort, auf einem Hügel in der Dorfmitte, und fragten, wo die Partisanen seien. Die Deutschen bohrten uns die Finger in die Stirn und schrien: „Peng-peng-peng!“. Bald darauf kam ein Mann auf einem Pferd herangaloppiert und brüllte: „In Ruhe lassen!“, und sie ließen uns alle gehen.

Ich erinnere mich auch, dass sie sagten, sie würden das Dorf anzünden. Meine Mutter nahm meine kleine Schwester auf den Arm und ich hielt mich am Rock meiner Mutter fest. Am Ende des Dorfes gab es einen Sumpf.  Dort gingen wir hin. Wir liefen durch den Sumpf und die Deutschen schossen auf uns, die Kugeln fielen rechts und links ins Wasser, aber wir wurden nicht getroffen. Mein Bruder kam aus dem Wald gerannt, nahm mich auf den Arm und lief mit mir in den Wald. Er war 1930 geboren. Meine ältere Schwester, die 32 geboren war, befand sich ebenfalls im Wald, wo sich alle vor den Deutschen versteckten.

Ich erinnere mich auch daran, dass ein Nachbar, der nicht an der Front war, Frauen und Kinder auf einem Wagen weit weg vom Dorf brachte. Dort schliefen wir alle nachts im Wald. Ich weiß nicht, ob wir lange dort waren oder nicht.

Unser Vater war im Krieg. Nach dem Krieg ist meine kleine Schwester verhungert. Es gab überhaupt nichts zu essen. Wir aßen Sauerampfer, wilden Spinat, Brennnesseln, in Wasser gekocht, sogar ohne Salz. Es gab weder Brot noch Kartoffeln. Auf den Kolchos-Feldern sammelten wir nach dem Winter faule Kartoffeln. Mutter wusch sie, zerstampfte sie in einem Mörser und machte Pfannkuchen. Es war köstlich, sie mit Sauerampfer zu essen. So lebte das ganze Dorf.

Die Meinen sind alle tot. Ich bin allein mit meinen drei Kindern, 6 Enkelkindern, 5 Urenkelkindern. Alle sind in Ordnung und lieben mich. Ich bin Analphabetin, habe nur die 1. Klasse besucht. Hatte nichts zum Anziehen im Winter. Das habe ich selbst geschrieben, entschuldigen Sie bitte meine Fehler.

Ich lebe jetzt gut, ich wünschte, es gäbe keinen Krieg. Solange ich gesund bin für mein Alter, danke ich Gott für alles. Ich wollte niemanden bitten zu schreiben, ich habe meine Seele, geöffnet, ich weinte allein für mich, damit niemand es sah. Sie haben mich gebeten zu schreiben, woran ich mich aus dem Krieg erinnere.

Ich lebe allein, meine Kinder leben nicht bei mir. Alles ist gut.

P. Varvara Semyonovna.

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarov

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