Soja Konstantinowna M. – Freitagsbrief Nr. 197 (Teil 2)

Teil 1

Mogiljow, Belarus
November 2021

Jetzt begann das Schlimmste. Unser Vieh stahlen sie, ich erinnere mich, die Kühe waren an deutsche Wagen gebunden. Unser Dorf wurde niedergebrannt, ich weiß noch, dass wir in den Wald gerannt sind. Meine Mutter sagte: “Da, unser Haus brennt!” Wenn ich mich jetzt an das Feuer erinnere, scheint es mir, dass die Flammen bis zum Himmel loderten. Damals verbrannten sie in unserem Dorf fünf Gehöfte, ich weiß nicht, wie viele Menschen. Zuerst versteckten wir uns im Wald in einem Bunker. Die Deutschen suchten auch dort nach Menschen und erschossen sie. Ich erinnere mich, dass ich hustete, also drückte meine Mutter mein Gesicht in ein Kissen und legte ein weiteres Kissen darauf, damit die Deutschen mich nicht hören konnten. Dann gerieten wir in ein anderes Dorf. Ich weiß nicht mehr wie, ich weiß nur noch, dass viele Leute in einem Haus waren. Morgens kam ein Deutscher und sagte: “Mutter, Schnaps!”. Die Hausfrau stellte eine Flasche auf den Tisch, er nahm sie und ging. Ich weiß noch, dass ich Angst hatte, was passieren würde, wenn sie keinen Schnaps mehr hätte.

Meine Kusine, geboren 1929, wurde nach Deutschland verschleppt. Damals wurden viele Menschen nach Deutschland verschleppt. Nach dem Sieg kehrte sie, Gott sei Dank, zurück. Einer anderen Kusine wurde das Bein von einer Granate abgerissen, sie war 5 Jahre alt, und ihr Bruder wurde getötet, er war 9 Jahre alt. Es passierte so viel, ich kann nicht alles beschreiben. Einige der deutschen Soldaten waren gut. Ein deutscher Soldat hat mir Tabletten gegeben, ich weiß nicht mehr, wofür. Einige bekamen Schokolade. Ein einfacher Soldat braucht den Krieg nicht. Wir litten unter Hunger, Kälte und Angst.

Es ist schrecklich sich an das Kriegsende zu erinnern. Ein leeres Feld und Asche. Wir wohnten in Baracken, in denen bis dahin die Deutschen Pferde gehalten hatten. Wir waren krank, es gab nichts zu essen. Mutter hat Brot aus Gras gebacken. Wir waren alle krank. Mein kleiner Bruder war etwa 6-7 Jahre alt, ging aufs Feld gefrorene Kartoffeln sammeln, wurde krank und starb. Wir mussten ein Haus bauen, aber wie? Es gab keine Männer – sie waren alle tot. Es gab keine Hilfe.

Zu Beginn des Krieges war mein Vater in Gefangenschaft, er galt als Verräter. Wir waren Geächtete. Meine Mutter nahm einen Kredit von dreitausend Rubel auf, um ein Haus zu bauen. Meine Mutter nahm meinen kleinen Bruder, er war etwa 11 oder 12 Jahre alt, und sie gingen in den Wald, um einen Baum für das Haus zu sägen. Der Baum fiel direkt auf meine Mutter. Sie sagte: „Der Himmel ist rot, ich kann nicht atmen und sprechen kann ich auch nicht”. Gott sei Dank hatte mein Bruder die Geistesgegenwart und die Kraft, meine Mutter zu befreien. Aber zum Bunker brachte er sie auf einem Schlitten; sie konnte nicht allein gehen. Ihre Lunge war beschädigt. Sie war lange Zeit krank, aber sie überlebte. Den Kredit zahlten wir durch das Pflücken von Beeren und deren Verkauf ab. Das kostete eine hohe Gebühr. Und als die letzte Rate bezahlt war, wurde uns die Gebühr erlassen. Als das Darlehen vollständig zurückgezahlt war, wurde mein Vater rehabilitiert, aber der Zug war bereits abgefahren. Ich bin bis zur 7. Klasse in Bastschuhen gelaufen.

Mehr als eine Generation war von diesem Krieg betroffen. Es gab SS-Männer, die keine Kinder und keine alten Menschen verschonten, sie verspotteten die Häftlinge. Sie ließen sie Panzergräben ausheben und erschossen die Erschöpften und warfen sie in die Gruben, die Lebenden und die Toten. Dort, wo ich jetzt wohne, wurde in der Nähe eine Gedenkstätte errichtet – ein Denkmal für die in Gefangenschaft Gequälten. Dort brennt eine ewige Flamme. Hier befand sich ein Todeslager. Hier, am Rande der Stadt, gab es einen Wald. Und in diesem Wald befand sich ein Konzentrationslager unter freiem Himmel. Die Erde war das Bett, der Himmel die Decke, Stacheldraht die Wand. Niemand bekam etwas zu essen. Um das Lager liefen Bewaffnete mit Maschinengewehren. Hier (so berichteten uns Zeugen) hörte man von August 41 bis 43 Tag und Nacht Gestöhn. Etwa 80.000 Menschen wurden hier geschunden. Im Winter und im Sommer unter freiem Himmel, ohne Nahrung und Wasser.

Der Pilot blieb am Leben – er half den Sieg näherzubringen. Er stammte aus Irkutsk oder der Region Irkutsk. Er schickte zwei Briefe an meine Mutter, aber sie antwortete nicht. Auf meine Frage “Warum?” antwortete sie, dass sie ihm nichts anderes anbieten könne als Sauerampfer ohne Salz. Er weiß also nicht, dass sein Retter am Tag nach seiner Abreise umgekommen ist.

Hitler hatte den Plan, Moskau in 2 Tagen einzunehmen und einen Teil des Volkes zu versklaven und einen Teil zu vernichten. Das hat er getan. Jeder Dritte von uns ist gestorben. Wir haben nicht kapituliert, aber es kam uns teuer zu stehen.

Jetzt lebe ich allein (mit Gott). Ich gehe in die Kirche, das hilft mir. Das Leben hat sich nicht nach Wunsch entwickelt, aber ich danke Gott für alles. Ich habe meine beiden Söhne allein aufgezogen. Sie gingen zur Armee, dienten beispielhaft, ich erhielt eine Dankesurkunde.  Sie sind freundlich, verständnisvoll und ehrlich, so wie meine Eltern es waren, obwohl sie sie nicht erlebt haben. Nur der Jüngere hatte Pech, als er in der Armee in der Stadt Minsk diente. Ein Labor, in dem Tierversuche durchgeführt wurden, hatte technische Probleme, es gab eine starke Strahlung, und er wurde verstrahlt. Das habe ich später herausgefunden. Als er nach der Reparatur aus dem Labor kam, ging der Geigerzähler durch die Decke. Man zog ihm schnell die Kleidung aus und vergrub sie, und zehn Jahre später begruben sie auch ihn, Diagnose  Sarkom. Er war 30 Jahre und 5 Tage alt. Er hat es geschafft zu heiraten, sein Sohn war 3, als er Halbwaise wurde. Aus der Armee brachte mein Sohn 2 Medaillen nach Hause. Auf meine Frage „Wofür?“ antwortete er, dass er gut schoss und so weiter. Er ging nie zum Arzt. Zwei Medaillen und Urlaub – das war alles, was er davon hatte. Später, als er gestorben war, erzählten mir seine engen Bekannten, dass er mit ihnen über seine starken Schmerzen sprach. Sie aber bat, mir nichts davon zu sagen. Der andere Sohn lebt nicht bei mir, er kommt zu Besuch. Er hat mich daran erinnert, an Sie zu schreiben und er verneigt sich vor Ihnen. Er heißt Wjatscheslaw.

Entschuldigen Sie, dass Ihnen so verworren schreibe. Ich wollte einfach mit Ihnen teilen, was mir auf der Seele liegt. Ich bin 83 und schreibe Ihnen einen Brief. Es ist Nacht.  Ich bin zu Hause und will Sie meine Meinung wissen lassen. Bitte verzeihen Sie, wenn etwas nicht ganz richtig ist. Mit aufrichtiger Hochachtung, Zoya Konstantinowna. Vielen Dank!

Ach Deutschland, Deutschland,
warum bist Du in den Krieg gezogen?
Durch dich, Deutschland,
kam mein Sohn um, mein Vater und
mein Bruder!

Danke!

Auf Wiedersehen!

Behüte Sie Gott!

11.2021

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarow