Nadezhda Yakovlevna L. – Freitagsbrief Nr. 124

Gebiet Mogiljow, Belarus
8.4.2020

Guten Tag!

[…]

Ich, Nadezhda Yakovlevna L. (Mädchenname Mikholap), habe Ihren Gruß mit den guten Wünschen bekommen und mein Mann, Grigorij Andreevich L., unsere Kinder, auch unsere Nachbarn und ich, wir möchten Ihnen unbedingt persönlich und mit ebensolchen guten Wünschen antworten. Hier sitzen neun Menschen vor mir und ich lese vor. Als ich Ihren Brief bekam, glaubten meine Nächsten nicht, dass er aus Deutschland, aus Berlin, kam.

Als ich bis zu der Stelle gelesen hatte, wo sie schreiben, dass einige von Ihnen in Khatyn vor der Scheune aus Stein niederknieten, die dem Gedenken der in ihr verbrannten Menschen geweiht ist, liefen nicht nur mir die Tränen herunter – meinen Zuhörern auch. Das sind Tränen der Rührung über die herzlichen Menschen, die mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele die brutalen Verbrechen empfanden, die die Faschisten friedlichen und vollkommen schuldlosen Menschen antaten. Außerdem erinnerte sich jeder von uns an die von ihm durchlebten Schrecken und Leiden.

So sind mir einige Episoden aus dieser schrecklichen Zeit in Erinnerung gekommen, wo es mir, meiner Mutter, meinen zwei Brüdern und anderen Dorfbewohnern durch puren Zufall gelang zu überleben. Im Dorf gab es eine leere Scheune, in die die Faschisten alle Dorfbewohner hineintrieben. Vor der Scheune stellten sie Maschinengewehre auf und warteten auf das Kommando anzufangen. Die Eltern nahmen ihre kleinen Kinder auf den Arm, sie waren ja nicht sehr schwer, damit sie eher von einer Kugel sterben würden als lebendig zu verbrennen. So nahm auch mich meine Mama auf den Arm. Aber zum Glück kam zu den Soldaten irgendein großer Vorgesetzter angefahren, sagte etwas und ließ uns aus der Scheune heraus. Aber wo sollten wir hin? Während wir alle in der Scheune den Tod erwarteten, brannte unser Dorf. Auch unsere Kate war abgebrannt. Alle fragten sich voller Entsetzen: „Wie sollen wir weiterleben?“ Furchtbar ist die Erinnerung daran, wie wir weiterlebten, barfuß, nackt, hungrig. Im ganzen Dorf waren nur einige Gebäude ganz geblieben – die Banja, ein Schuppen, die etwas entfernt von den Häusern standen. In der ersten Zeit hielten sich in jedem mehrere Familien auf.

Wozu haben sie ihren Spott mit kleinen, unschuldigen Kindern getrieben, mit den Alten, überhaupt mit der Zivilbevölkerung?

Um nicht an Hunger zu sterben, ging man im Sommer in den Wald, Beeren sammeln, auch in den Sumpf, Sauerampfer holen und Brennnesseln. Hinter dem Dorf befand sich der Sumpf, auf dem etwas höheren Teil wuchs der Sauerampfer, der andere war furchtbar tief. Die Kinder schickte man los, Sauerampfer holen, und in dieser Zeit veranstalteten die Faschisten eine Razzia im Dorf. Sie sahen uns und hetzten die Hunde auf uns. Alle weinten, schrien, riefen nach ihrer Mutter, und die Faschisten lachten. Erst als sie genug hatten von dieser Schikane, ließen sie von uns ab und gingen weg. Die Erwachsenen kamen gerannt, um die Kinder zu retten, weil sie den Lärm gehört hatten. Aber den Allerkleinsten konnten sie nicht retten. er ging unter, erstickte im Moor.

Herr im Himmel! Jeder Tag war eine Folter, unbeschreibliche Angst Tag und Nacht. Unmöglich, das alles zu beschreiben.

Ich möchte noch eine Episode erzählen, an die ich mich genau erinnere. Meine Mama sagte, dass nicht alle deutschen Soldaten Tiere seien. Es gab gute, höfliche, die zum Wehrdienst gezwungen worden waren. Als unser Dorf verbrannt wurde, gingen wir ins Nachbardorf, wo uns gute Menschen beherbergten. Zusammen mit uns wohnten in einer Kate zwei deutsche Soldaten, die dort einquartiert waren. Sie liebten uns Kinder, nahmen uns auf den Arm, gaben uns von ihren Konserven ab. An deren Geschmack erinnere ich mich bis heute ganz genau. Sie gaben uns Bonbons. Der eine deutsche Soldat spielte gern mit mir. Er sagte, dass er zu Hause ein Mädchen hätte, die mir sehr ähnlich sei. Und der andere Soldat spielte mit einem anderen Mädchen, das ihn an seine Tochter erinnerte. Aber das waren Einzelfälle.

Gebe Gott den Nachkommen dieser deutschen Soldaten Gesundheit und ein langes Leben. Solche Erinnerungen habe ich! Jetzt ist Gott sei Dank eine andere Zeit. Mein Mann und ich sehen sehr gern Fernsehsendungen über Deutschland. Wir sind begeistert von Ihrer klugen, herzlichen, schönen und weisen Angela Merkel.

Und was uns betrifft – die schrecklichen Kriegsjahre wirkten sich auf unsere Gesundheit aus und auf unser weiteres Leben. Mein Vater fiel an der Front, wir waren drei Kinder und hatten nichts zum Leben, „keinen Zaunpfahl und keinen Hof“. In allem fingen wir von Null an. Wir hatten weder Kleidung noch Schuhe und hatten Hunger. Wir hatten keine Mittel und hätten so gern gelernt. Wir aßen einmal am Tag und das nicht immer, wir gingen in die Schule und gaben uns Mühe etwas zu lernen. Meine Brüder und ich, hungrig und abgerissen wie wir waren, studierten an der Universität und machten dort unsere Abschlüsse.

Das ist alles. Noch einmal von Herzen Vielen Dank für Ihr Schreiben und für Ihre – wie Sie richtig schreiben, bescheidene – materielle Hilfe

Wenn es jemanden interessiert, habe ich nichts dagegen, dass herzliche, friedliebende Menschen in Deutschland mehr über die faschistischen Gräuel erfahren.

Viele Grüße und herzliche Wünsche, bleiben Sie gesund, mögen wir in Frieden, Freude und Liebe leben.

Übersetzung aus dem Russischen  von Karin Ruppelt