Mihalina Petrowna G. – Freitagsbrief Nr. 81

81. Neuer Freitagsbrief
Mihalina Petrowna G.

Belarus, Gebiet Witebsk

Es wendet sich an Sie eine Bürgerin von Belarus, Mihalina Petrowna G., geb. P., wohnhaft in der Stadt Lepel, Witebsker Gebiet. Ich bin schon 87, Invalidin der 1. Gruppe, lebe bei meiner Tochter Danilowna Emilia Metscheslawowna (sie schreibt diesen Brief).

Ich 1930 bin im Dorf Starinki des Pyshnjansker Dorfsowjets, Kreis Lepel, Witebsker Gebiet, geboren, wo ich auch bis zum Zweiten Weltkrieg wohnte. Ich lebte dort mit meiner Mutter Anastasija Antonovna P. , meinem jüngeren Bruder Vladimir und meiner Schwester Emilia. Unser Vater, Petr Antonovich P., kam 1939 im Finnischen Krieg uns Leben. Unsere Mutter zog uns allein groß. In unserem Dörfchen gab es nur 8 Höfe, aber die Faschisten kamen sehr oft dorthin, konfiszierten bei uns und den anderen Dörflern Lebensmittel (Speck, Butter, Milch, Eier, Brot), töteten Vieh und Geflügel und nahmen es mit, oder sie ergriffen Kinder, Jugendliche und Alte aus unserem Dorf und anderen nahegelegenen Dörfern, und jagten uns mit Maschinengewehren im Anschlag und mit Hunden vor sich her wie eine Zielscheibe: Sie trieben uns über die Wege, um zu prüfen, ob diese nicht vermint waren, oder auch, wenn sie auf Partisanenjagd gingen. Wenn jemand weglaufen wollte, schossen sie, wenn jemand fiel, schossen sie, andere wurden von Minen zerrissen.

Einmal, als man uns in vermintes Gelände jagte, starben viele, und die Überlebenden wurden unter Bewachung nach Lepel getrieben, in einen Pferdestall gesperrt, wo wir übernachteten, und morgens verlud man uns auf einen Lastwagen und fuhr uns nach Vitebsk. Bei mir war der jüngere Bruder meiner Mutter, Franz Antonovich M. (2 Jahre älter als ich). In Witebsk kamen wir in ein Lager (lange Baracken). An die genauen Daten erinnere ich mich nicht, aber es war am Frühlingsanfang 1942. Im Lager blieben wir über 2 Monate. Wir mussten Schützengräben für die deutschen Soldaten ausheben, Kartoffeln schälen und Geflügel rupfen, und zu essen gab man uns so eine Balanda (gekochtes Gedärm und Hufe von Tieren) Ich konnte das nicht essen und wurde völlig kraftlos. Franz bettelte in der Küche um wenigstens ein Stückchen Brotrinde, um mich irgendwie am Leben zu erhalten. Es waren unerträgliche Zustände. Nachts war es sehr kalt, die Jacke meines Vaters, die ich anhatte, half ein bisschen. Die Sowjetsoldaten bombardierten die deutsche Garnison, Bomben fielen auch auf das Lager, die Menschen wurden in Stücke gerissen, Arme und Beine wurden ihnen abgerissen, überall Schreie und Stöhnen. Ich betete dauernd und bat Gott darum, sofort tot zu sein, ohne mich zu quälen. Dann waren unsere Leiden im Lager zu Ende, wir wurden in Güterwagen verladen und irgendwohin gefahren, uns war es ganz egal, wohin wir fuhren, bloß weg aus dieser Hölle, auch wenn sie uns erschießen würden. Wir kamen in das Dorf Surazh, alle wurden abgeladen und in die Banja getrieben. Wir mussten uns ausziehen, weil unsere Kleidung völlig verlaust war. Die Kleidung wurde im heißen Dampf gereinigt, wir mussten uns waschen und bekamen die Kleidung zurück. Dann wurden wir bei Leuten in Surazh untergebracht. Mich nahm eine Frau zu sich. Von dort trieb man uns wieder zum Schützengräben-Ausheben. Dann erkrankte ich an Typhus. Viele wurden krank und wurden erschossen. Warum ich am Leben blieb, weiß Gott allein.

Bald darauf wurden die gesunden Kinder und Jugendlichen nach Deutschland transportiert, darunter auch meinen Onkel Franz, der dort bis zum Kriegsende blieb und arbeitete. Als es mir etwas besser ging, beschloss ich, nach Hause zu fliehen. Ich fragte die Leute aus, wie ich nach Lepel komme. Sie erklärten es mir, und eines Nachts lief ich weg, zusammen mit anderen Frauen und Jugendlichen, die auch Gräben ausgehoben hatten. Ich ging zu Fuß, manchmal lief ich auf die Landstraße und mich nahmen deutsche Soldaten mit. Sie fragten, wer ich sei, woher und wohin ich gehe. Ich sagte, dass ich Schützengräben ausgehoben hatte, da nahmen sie mich mit und schenkten mir ab und zu Schokolade und einen Keks. So kam ich im Herbst zum Dorf Pyshno, wo ich erfuhr, dass sie unser Dorf abgebrannt und alle seine Bewohner getötet hatten. Meine Mutter und die kleineren Kinder waren am Leben geblieben. Sie waren zu dieser Zeit in einem anderen Dorf bei Verwandten gewesen (Lipovo im Dokshitser Gebiet). Wir hatten keine Bleibe, gruben eine Erdhöhle aus, in der wir bis zum Ende des Krieges lebten. Nachts schliefen wir in der Kleidung, weil es kalt war, und weil wir immer auf der Hut waren, um in den Wald zu fliehen, wenn eine Strafexpedition nahte.

Und jetzt wendet sich meine Tochter an Sie: Meiner Mutter geht es nicht mehr gut. Manche Daten und Ereignisse verwischen sich im Gedächtnis, aber sie ist geistig auf der Höhe. An das Wichtigste und vor allem an die Kriegsereignisse erinnert sie sich sehr gut, nachts schläft sie nicht – sie träumt vom Krieg, kann keine Kriegsfilme sehen, weint, wenn jemand sie nach dieser schrecklichen Zweit fragt. Alle, die mit ihr in Gefangenschaft waren, sind gestorben, auch die, die nach Deutschland verschleppt wurden, darunter ihr Onkel Franz, er lebt schon seit 20 Jahren nicht mehr.

Der Zweite Weltkrieg hat unserer Familie sehr viel Kummer gebracht. Die Mutter meines Vaters, Elena Kazimirovna G., geboren 1900 aus dem Dorf Wetche, Kreis Ushachsk im Witebsker Gebiet, war zusammen mit ihrem älteren Sohn Stanislaw im Konzentrationslager Auschwitz, der lebend [sic???]  im Krematorium verbrannt wurde. Die Großmutter trug die eingestanzte Nummer auf dem Arm. Ich weiß sie natürlich nicht mehr, ich war 7 Jahre alt, als sie 1962 starb. Sie war nach dem Krieg lange krank, und konnte sich die letzten zwei Jahre ihres Lebens nicht mehr aus dem Bett bewegen.

Wir alle – Kinder, Enkel, halten ihre Erzählungen heilig im Gedächtnis und bemühen uns, sie unseren Kindern weiterzugeben, und wir wissen genau, dass von unserer leidgeprüften belarussischen Erde niemals eine Bedrohung gegen irgendjemanden auf der Welt ausgehen wird, und hoffen, dass unsere Generation ebenso wenig wie andere solche ungeheuerlichen Dinge erleiden müssen wie unsere Eltern.

Wir sind dankbar dafür, dass der Verein gegründet wurde und dass Sie mit der Tragödie der Völker mitleiden, die unter den Missetaten des Faschismus gelitten haben.

Hochachtungsvoll,     M.P. G., E.M. D.