Manuk Muradjan – Freitagsbrief Nr. 126

Sehr geehrter Herr Radczuweit,

nehmen Sie bitte meinen herzlichsten Dank für Ihren segensreichen Beistand an, den Sie mir und meiner Familie in meiner äußerst schweren sozialen und gesundheitlichen Situation über unseren Verein haben zukommen lassen. Meine Dankbarkeit hat keine Grenzen…, weil ich erst dank Ihres Beistands imstande gewesen bin, die Möglichkeit, die Kraft zum weiteren Überstehen zu erlangen… Mögen Sie gesegnet sein! Mit Freude nahm ich darum die Bitte der Leiter unseres Vereins, Mels Margarjan und Albert Nalbandjan, an, meine Kriegsgefangenschaftsgeschichte zu schreiben und Ihnen zu schicken. Ich versuche, im Folgenden alles, woran ich mich erinnere, aufzuschreiben.

Ich bin 1918 in Taschir (Nordarmenien) geboren. Als ich mein Studium an der chemischen Fakultät der Staatsuniversität Jerewan beendet hatte, wurde ich in die Armee einberufen. Ich diente als Telefonist im Militärbezirk von Kiew, in der Division N. 97 (Artillerieregiment N. 9). Wir befanden uns im Juni 1941 westlich von Lwow, an der sowjetisch-polnischen Grenze, und schon vom ersten Tag des Kriegsausbruchs waren wir an der Front. Am zweiten Tage nach dem deutschen Überfall begannen wir uns in Richtung Lwow-Ternopol-Proskurow-Chorol zurück zu ziehen. Bei Chorol wurde ich verwundet und mit den Truppen der Armeen 5, 6 und 26 geriet ich in die Kiewer Belagerung, wo ich am 22. September von den Deutschen gefangen genommen wurde.

Im Winter zu 1942 war ich im Lager von Kamenez-Podolsk, und später, im Frühjahr 1942, schickte man mich nach Polen in das Lager Ostrow-Masowiecka [Stalag 324]. In diesen beiden Lagern, besonders im Letzteren war die Situation der Kriegsgefangenen äußerst schwer. Täglich starben mehrere hundert Menschen an Hunger und Krankheiten. Im Lager Ostrow-Masowiecka versuchte ich einmal, zusammen mit einigen Kameraden einen unterirdischen Weg zur Flucht zu graben. Wir waren aber erst zum Teil damit fertig, als unser „Tunnel“ infolge eines starken Regens einfiel. Obwohl die Deutschen es nicht klären konnten, wer die Gräber gewesen waren, hielten sie trotzdem einige Verdächtige, unter ihnen auch mich, in Isolierung und unter besonderer Bewachung.

Am Ort dieses Konzentrationslagers [tatsächlich Stalag] ist von der polnischen Regierung nach dem Kriegsende ein Museum errichtet worden. Soweit ich mich darüber richtig informiert habe, soll das Museum gerade an der Stelle unseres „Tunnels“ gebaut worden sein.

In dieser Zeit litt ich an einem Magengeschwür, und ich hatte auch Blutungen. Deswegen schickte man mich bald in das Lager von Radom. Dort wurden wir je nach unserer nationalen Zugehörigkeit zu kleineren Gruppen aufgeteilt, und mich mit fünfzehn Armeniern schickte man zu einem türkischsprachigen Arbeitsbataillon [Aserbaidschaner?] , das sich in der Nähe der Stadt Lwow an einem kleinen Bahnhof namens Selez-Sawoni zu arbeiten hatte. An diesem Bahnhof gab es in der Sowjetzeit eine für militärische Bauarbeiten vorgesehene riesige Ablage. Nach dem Kriegsausbruch hatte man in die dort gelagerten Baumaterialien Minen hingelegt, während wir diese Materialien auf die Lastwagen zum Transportieren nach Deutschland aufladen mussten. Es kam während der Arbeit mehrmals zu Explosionen, wobei mehrere Zwangsarbeiter starben. Als nur noch wenige aus dem Personal des Bataillons am Leben geblieben waren, ließen die Deutschen uns, die Übriggebliebenen, anderen Bataillonen anschließen. Ich wurde nach Edlinia [?] in Polen geschickt, wo ich innerhalb einer Arbeitsgruppe neben anderen Arbeiten das Territorium einer Dolmetscherschule und ihre Räume in Ordnung bringen musste. Im Dezember 1943 wurde die Schule zusammen mit unserer Arbeitsgruppe nach Berlin verschickt, wo die Schule zuerst an der Wilmersdorfer Straße 76[?] und dann an der Stefanstraße 2 (im Berliner Viertel „Moabit“) wieder errichtet wurde.

Im Jahre 1944, während Berlin beständig von den englischen und amerikanischen Flugzeugen bombardiert wurde, schickten die Deutschen uns zu verschiedenen bombardierten Gebäuden, damit wir das Feuer löschten und die betroffenen alten Insassen oder Kinder sowie ihr Inventar in relativ sichere Stellen brächten. Da wir dies öfters im Laufe der Bombardierungen machen mussten, verloren wir 3 unserer Kameraden, die unter den Trümmern blieben. Hauptmann Harms, unser Vorsteher, hat mich einige Male vor der Gruppe wegen meiner selbstlosen und opferbereiten Rettungsarbeit aufs beste gelobt.

Ich wurde im April 1945 von den französischen [?] Truppen befreit, und meine Rückkehr in die Heimat erfolgte im Dezember 1945. Ende 1949 wurde ich aber von den Behörden festgenommen und als „Vaterlandsverräter“ zu 25 Jahren Verhaftung und Deportation nach Sibirien verurteilt. In der Anklageschrift war darauf hingewiesen worden, dass ich, „während die USA und England Berlin bombardierten, die davon betroffenen Berliner gerettet, das Feuer gelöscht und somit den Deutschen geholfen“ habe. Ich kam erst nach dem Tode Stalins, im Oktober 1955, in Freiheit und dann konnte ich wieder nach Armenien zurückkommen.

Mit herzlichsten Grüßen

und allen besten Wünschen aus Armenien

Ihr Manuk Muradjan

Übersetzung aus dem Armenischen Ashot Hayruni