Ukraine, Cherson
2014
Dies ist der zweite Teil des Berichts einer Überlebenden der Shoah aus der Ukraine, der Bericht über die Familie ihres Vaters.
Ich bin eine von den Überlebenden der Schoah, geboren wurde ich im Jahre 1940. Mein Vater war Jude, meine Mutter nicht. Als der Krieg begann, ging mein Vater an die Front, und wir konnten uns nicht mehr in Sicherheit bringen. Als die Deutschen Cherson okkupierten, befanden wir uns in der Stadt. Die Verwandten meines Vaters (Mutter, Schwester, die Frau und die zwei kleinen Kinder seines Bruders – Marta, geb. 1936 und Ella, geb. 1941) wurden sofort mitgenommen und bald vernichtet. Uns (meine Mutter, meinen Bruder, geb. 1934, und mich) nahmen sie nicht sofort mit, weil meine Mutter Ukrainerin war und ihren eigenen Familiennamen trug. Aber dann fingen sie an, alle Juden mitzunehmen, mütterlicherseits und väterlicherseits, bis zur 4. Generation. Und unsere Mutter begann, uns zu verstecken. Wir gingen von einer Siedlung zur nächsten, von den einen Verwandten meiner Mutter zu den nächsten. Wir lebten in Kellern.
[…]
Mein Vater – K. Isaak (Schija Schika) Moisejewitsch, geb. 1911, stammte aus Golaja Pristan. Wann sie nach Cherson zogen, weiß ich nicht genau, irgendwann Anfang der 20er Jahre. Seine Familie bestand aus Vater, Mutter, zwei Brüdern und einer Schwester. Der Vater, K. Mosja (mein Großvater) hat, glaube ich, als [*шейкер Schächter?] gearbeitet. Er starb bereits, als sein erster Enkelsohn geboren wurde, 1934. Zu Ehren des Großvaters wurde er Mosja genannt. Mein Vater war der Zweitgeborene.
Mein Vater arbeitete als Schlosser bei der Landtechnikfabrik (Kardanwellen). War Aktivist– Komsomolze, Freiwilliger. Als ehrenamtliche Tätigkeit leitete er das Rote Kreuz in der Fabrik. Er besetzte den obersten Rang und wurde ohne medizinische Ausbildung zum Verwaltungsvorsitzenden des medizinischen Zentrums der Binnenschiffervereinigung (das kommt dem Posten eines Gewerkschaftsvorsitzenden nahe) gewählt. Wegen dieser Stelle musste er oft geschäftlich nach Moskau und Kiew zu Konferenzen und Tagungen. Von seinen Dienstreisen brachte er immer Geschenke mit. In der Partei war er nicht, weil er dem Ruf der „Fünfundzwanzigtausender” [Двадцатипятитысячники: Sammelbegriff für Arbeiter mit Organisationserfahrung aus den großen Industriestädten, die 1929 von der KPdSU freiwillig aufs Land geschickt wurden, um die Kolchosen zu unterstützen. d.Übers.] nicht gefolgt war (er sagte, er kenne die Ortschaft nicht, in die er hätte gehen sollen). Meine Mutter war damals sehr besorgt, hatte Angst, dass man ihn verhaften würde, was nicht geschah, aber in die Partei wurde er nicht aufgenommen, Verwaltungsvorsitzender des medizinischen Zentrums blieb er trotzdem.
Von den ersten Tagen des Krieges an war er an der Front. Gestorben ist er am 10.08.1943 auf dem Gut Swistelnikowo, Kreis Slawjansk der Region Krasnodar. Meine Mutter hatte er bei der Komsomolzenarbeit kennengelernt. Sie wurden Freunde, verliebten sich, heirateten 1933. 1934 wurde ihr Sohn Mosja geboren (er verstarb 2003 in Israel an Krebs). 1937 wurde der zweite Sohn Wilja geboren (er verstarb bereits im Alter von 2 Jahren an einer Lungenentzündung). 1940 bekamen sie eine Tochter – mich. Mein Vater war den Erzählungen meiner Familie nach ein sehr aufmerksamer, liebevoller, fürsorglicher Ehemann, Vater und Sohn. Meine Großtante mütterlicherseits, sie war sieben Jahre älter als meine Mutter (sie war wie eine Schwester für meine Mutter und [zunächst] gegen diese Ehe), hat einmal gesagt, niemand in der Familie habe einen Ehemann und Vater wie Schija gehabt. Wohin auch immer er reiste, von überall brachte er Geschenke mit, wenn auch nichts Großes, nie vergaß er jemanden. Er liebte seine Frau, seine Kinder, seine Mutter, seine Brüder und die Schwester sehr. In seinen Briefen erkundigte er sich immer nach ihrer Gesundheit. Er hatte viele Freunde. Ich habe viele Fotografien von Freunden (größtenteils jüdische), die sie ihm zur Erinnerung geschenkt hatten. So war mein Vater, ich musste leider ohne ihn aufwachsen. Er liebte seinen Mischutka (den Erstgeborenen) und auch mich, sein „kostbares“ Töchterchen. Wir haben sehr viel verloren, er hat uns sehr geliebt.
Hier ist eine Episode aus der damaligen Zeit (aus Erzählungen). Für die Feier am 1. Mai 1941 bekam ich ein neues, festliches Kleid genäht. (Mein Vater hatte den Stoff aus einem Sanatorium mitgebracht, in dem er im Herbst 1940 zur Kur gewesen war.) Meine Großmutter nähte ein schönes, festliches Kleid mit Rüschen, aber es war etwas zu lang, und er sagte bestürzt, warum verunstaltet ihr mein Töchterchen, sie muss ein kurzes Kleid tragen, so dass man das Höschen sieht, macht doch kein altes Weib aus ihr.
Mir waren ein paar Briefe geblieben, die er geschickt hatte – vor dem Krieg und von der Front (bevor Cherson von den Deutschen besetzt wurde). Zwei habe ich jetzt noch. In einem aus der Vorkriegszeit (August 1940) schreibt er aus dem Sanatorium, in dem er zur Kur war. Gratuliert dem Söhnchen zum Geburtstag. Schreibt, er soll ein braver Junge sein und dass er ein Geschenk mitbringen würde. Er schreibt, dass er für Njusja (seine Frau) und sein Töchterchen (nicht mal ein Jahr alt) Stoff für Kleider gekauft hat – 5 Meter, für den Sohn Hemden und Geschenke für die Schwiegermutter und die anderen Verwandten. Schreibt, dass er alle vermisst, Sehnsucht nach Zuhause hat. Der zweite Brief stammt schon von der Front – er ist kurz, eine halbe Seite lang (er musste sich beeilen, ihn zu schreiben und weiterzugeben). Der Brief ist allgemein gehalten – adressiert an seine Mutter, sie sollte ihn an seine Frau weitergeben. Er teilt mit, dass er lebt und verspricht, dass er am Leben bleiben und bald alle wiedersehen wird. Erkundigt sich nach der Gesundheit seiner Mamusja, seiner Frau, seinen Kindern, fragt, wie es seiner frischgeborenen Nichte Ellotschka geht (sie kam 1941 zur Welt), seinen anderen Nichten und Neffen, seiner Schwester und den Brüdern. Aber aus dem Krieg kehrte er nicht zurück. Ich besaß noch eine Postkarte, die er an seinen Freund geschickt hatte (und er gab sie an uns weiter) und in der er sich sehr besorgt um seine Familie zeigte, die nun den Deutschen überlassen war.
Mein Vater starb an der Front. Mein Bruder und ich wuchsen ohne väterliche Zuneigung, ohne das gütige Lächeln der Großmutter auf. Der Großteil der Verwandtschaft ist gestorben (die einen an der Front, die anderen durch die Hand der Nazis). Ich bete jeden Tag zu Gott, dass sich dieser Albtraum niemals wiederholt, dass mein Sohn, meine Enkel und die (zukünftigen) Enkel nie die Schrecken des Krieges und Menschenhass kennenlernen. Ich bete zu Gott, dass er allen Völkern Frieden und Wohlergehen zu Teil kommen lässt.
Übersetzung aus dem Russischen Jennie Seitz