Lidija Iwanowna L. – Freitagsbrief Nr. 228

Belarus, Gebiet Mogiljow
Februar 2023

Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg

Ich wurde am 11. März 1937 in dem Dorf Z. geboren. Nach dem Krieg wurde mein Alter anhand meines Aussehens bestimmt (wie bei allen, die ihre Dokumente während des Krieges verloren hatten), und dementsprechend wurde ein Eintrag in eine neue Geburtsurkunde gemacht; 01.01.1938.

Meine Eltern Iwan Makarowitsch und Feodosija Jakowlewna K., hatten 5 Kinder.

Als der Krieg begann, ging mein Vater, der vor dem Krieg als Vorsitzender des Dorfrates gearbeitet hatte, sofort zu einem Partisanenkommando. Er kämpfte für den Schutz seiner Heimat und seiner Familie. Ende 1942 wurde er von den deutschen Besatzern erschossen. Weil wir eine Partisanen- und Kommunisten-Familie waren, misshandelten die Deutschen und die Polizaj  [einheimische Kollaborateure/ d. Übers.] meine Mutter auf jede Weise. Sie zwangen sie, die Toiletten der Deutschen zu putzen und hetzten Hunde auf sie. Nachdem Papa erschossen worden war, nahmen uns der Ortspolizist Wasilij und die Besatzer unsere Kuh und dann die Schweine weg. Meine Mutter flehte sie an, uns wenigstens ein Ferkel zu lassen, sonst würden ihre fünf Kinder verhungern. Das hat niemanden gerührt. „Sagen Sie danke, dass wir Sie nicht alle zusammen mit Ihrem Mann erschossen wurden.“ Das war alles.

Die Deutschen fanden Gefallen an unserem Haus und unserer Scheune. Als der Krieg begann, hob meine Mutter in der Scheune eine Grube aus und versteckte darin eine Kiste mit Kleidung und Wäsche. Die Deutschen vertrieben unsere Familie aus dem Haus und stellten Pferde in die Scheune. Natürlich verfaulte alles in der Truhe. Meine Mutter holte uns aus Zapol‘je, heraus, und den ganzen Krieg über lebten wir im Dorf Pobeda. Wenn die Häuser niedergebrannt wurden, versteckten wir uns in den Wäldern. Es gab nichts zu essen. Wir sammelten Klee und buken Fladenbrot, aber das ging nur im Sommer. Und im Winter und im Frühling gingen wir nachts auf die Felder. Manchmal fanden wir gefrorene Kartoffeln. Wir waren sehr hungrig und das Leben war schwierig.

Mutter war Verbindungsperson, genauer gesagt gab sie mehrmals Informationen an die Partisanen weiter. Wenn es also Razzien gab und Menschen in Schulen und Scheunen getrieben und verbrannt wurden, brachte Mutter uns in die Wälder, weil sie gewarnt worden war.

Nach dem Krieg wurde den Polizisten der Prozess gemacht. Und so wurde auch der Polizist Wasilij zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Er wurde jedoch aufgrund einer Amnestie früher freigelassen. Er heiratete und kehrte nach Z. zurück. Jetzt ist er nicht mehr am Leben, hinterließ aber zwei Söhne – Mihail und Ivan. Sie haben ihren eigenen Kopf und sind sehr respektlos gegenüber den Menschen. Ich glaube, wenn es jetzt Krieg gäbe, würde Michail nicht hinter seinem Vater, dem Polizei-Kollaborateur, zurückstehen.

Als die Rote Armee kam, wurde meine Mutter gefragt, wer ihr während des Krieges etwas angetan habe. Aber sie sagte immer, dass sie den ganzen Krieg hindurch zu Gott um ihr eigenes Überleben und das ihrer Kinder gebetet habe. Sollten sie überleben, würden sie sich an niemanden rächen.

Tomotschka, meine kleine Schwester, starb nach dem Krieg. Hunger und Armut forderten ihren Tribut. Meine Mutter arbeitete unermüdlich auf dem Hof und molk die Kühe. Und wir halfen meiner Mutter, so gut wir konnten. Meine ältere Schwester Zinaida, geboren 1930, starb 2011. Vor ihr starb 2007 die 1933 geborene Marija. Übrig blieben meine ältere Schwester Anna, geboren 1936, die jetzt in der Stadt K. lebt, und ich.

Mit 46 Jahren hatte ich eine Gefäßkrise, und 2004 erlitt ich einen Schlaganfall. Meine rechte Seite ist gelähmt. Ich bin behindert. Schon nach dem Krieg ging es mir gesundheitlich nicht gut. Ich litt unter ständigen Kopfschmerzen aufgrund des Hungers. Die Folgen der im Krieg erlebten Ängste, der Unterernährung und der Trauer über den Verlust des Vaters machten sich bemerkbar. Ich erinnere mich jetzt noch an ihn und weine immer. Ich erinnere mich, wie er aus dem Finnischen Krieg zurückkam. Wie er mich auf den Armen aus der Banja trug. Wie er neben der Scheune saß, von den Deutschen gefesselt und auf sein Schicksal wartend.

Ich wünschte, alle Menschen würden verstehen, dass keine Reichtümer und wertvolle Bodenschätze die geliebten Menschen, zurückbringen und ersetzen können, die im Krieg gestorben sind. Ich möchte schreien: “Leute, kommt zur Vernunft! Hört auf zu kämpfen, das Leben ist so kurz. Kommt zu Gott”.

02.02.2023 (Unterschrift) L. I. L.

P.S. In Z. gibt es eine Gedenktafel für die Gefallenen der Partisanengruppe Izoh, darunter auch für meinen Vater, Iwan Makarowitsch K.

In Usakino gibt es einen Ort „Zum ewigen Gedenken“ an die gefallenen Partisanen, wo auch an meinen Schwiegervater, Leutnant Iwan Jewmenowitsch L., gefallen 1943, erinnert wird.

Alle Informationen sind im Gedenkbuch des Kreises Klitschewsk und des Dorfes Usakino in der Gedenkstätte zu finden.

Übersetzung Karin Ruppelt und Igor Makarow