Grigorij Pawlowitsch Donskoj – Freitagsbrief Nr. 88

Nach dem letzten Freitagsbrief einer Sanitäterin, die von ihrer Gefangennahmen bei der Verteidigung von Sewastopol berichtete, folgt heute  der eines männlichen Rotarmisten, der ebenfalls bei den Kämpfen um Sewastopol gefangen genommen wurde. Er hat uns 2005 zwei Briefe geschrieben, den zweiten mit seinem Bericht von der Filtration und Lagerhaft nach seiner Repatriierung  haben wir in unserem Buch: “Ich werde es nie vergessen” 2007 veröffentlicht.

Grigorij Pawlowitsch Donskoj
Ukraine, Gebiet Donezk

21.11.2005

Sehr geehrter Vorstand, geehrte Mitglieder des Vereins “Kontakte”!

Dank unserer unglaublich guten Information habe ich erst vor kurzem über die Existenz des Vereins “Kontakte” erfahren, der mit seiner Tätigkeit auch meine Vergangenheit – das heißt die Gefangenschaft vom Mai 1942 bis April 1945 – berührt. Ihre Bitte, meine Erinnerungen aus dieser Zeit zu teilen, nehme ich sehr positiv an. Umso mehr, daß sie für so einen edlen Zweck gebraucht werden, worüber es in Ihrem Brief auch die Rede war. In der ehemaligen Sowjetunion war es unüblich und sogar verboten, über die Schicksale der Millionen Kriegsgefangenen zu sprechen. Sie waren einfach nicht existent. Und wenn es doch ein paar gab, so waren es keine Gefangenen, sondern Vaterlandsverräter, und sollten verflucht sein.

Ich beginne damit, wie ich in die Gefangenschaft geraten bin. Aus der Nachkriegsliteratur habe ich erfahren, daß die Truppen auf der Halbinsel von Kertsch, zu denen ich auch gehörte, die Einnahme von Sewastopol sehr erschwerten. Der Befehlshaber der deutschen Truppen, Erich Mannstein , beschloss, diese Sowjettruppen loszuwerden. Wenn er sie vernichtet hätte, könnte er alle Kräfte für die Einnahme von Sewastopol verwenden. Und das hat er auch getan. Die Operation hieß “Trappvogeljagd”. Die Jagd begann am 8. Mai 1942 und endete ziemlich bald und erfolgreich. Wenn man nicht lügt, sind insgesamt 170 000 Trappvögel, d. h. Kriegsgefangene, in die Netze geraten, darunter auch ich.

Also, der 17. Mai 1942 war der Beginn meiner Gefangenschaft. Einige Tage wurden wir in Feldlagern auf der Krim gehalten (Dschankoj, Feodosija). Verpflegung bekamen wir keine, man hielt sich am Leben mit Gras oder mit dem, was Gott eben einem schickte. Mein Körper begann, sich selbst aufzufressen, und ich verlor schnell an Gewicht. In unserem Verhalten erinnerte manches schon an Tiere. Nur ein Gedanke blieb im Kopf: Essen zu finden. Außerdem, waren die ewigen Begleiter des Hungers und der dreckigen Körper aufgetaucht – die Läuse. Die gnadenlosen Insekten saugten das wenige in uns noch gebliebene Blut aus. Diesen Räubern war es egal, daß du ja ein Mensch bist – der Herr der Schöpfung. Doch auch solche, halbtote Trappvögel hat anscheinend jemand gebraucht, und so wurden wir, noch am Leben, mit einem Zug nach Schytomir gebracht. Wir wurden in die ehemaligen Kasernen eingesperrt. Hier hat die “Sanierung” angefangen: Die Auslöschung der Juden. Was sie dem deutschen Volk angetan haben, wusste ich nicht, und war darum sehr verwundert. Um diese Menschen zu “entlarven”, hat man, wie ich merkte, drei Methoden angewandt:

Methode eins – “Mütze ab!” [im Original deutsch] Um die Köpfe besser zu sehen. Nach ihrer Rassentheorie hatten die Juden wohl keine Standardköpfe. Ein paar Menschen wurden weggebracht.

Methode zwei. Hier wurden wir alle, ich auch, ins Bad gebracht. Dort mussten wir uns bis auf das “Adamskostüm” ausziehen. Dann wurde jeder von einem Spezialisten, der sich mit Beschneidungen auskannte, begutachtet. Alle Beschnittenen – egal, ob Moslem oder Jude – wurden dann ungebadet weggebracht. Ganz weit weg, vermutlich.

Methode drei. Es wurde verkündet, dass alle, die früher Schneider, Musiker, Friseure, kaufmännische Angestellte waren, sich an das Lagerkommando wenden sollten. Angeblich für ihre Anstellung und weitere Ausübung ihres Berufes. Die Ausbeute war diesmal gering, doch es kamen einige. …

Im Lager von Schytomyr bekamen wir endlich Essen. Ein Stückchen Brot, das alles mögliche enthielt, nur nicht das, woraus dieses Produkt hergestellt werden soll. Das erste, und auch letzte Gericht war eine Suppe. Die Ingredienzien dieses Diätgerichtes sind für mich ein Rätsel. Mangels Geschirrs benutzten wir unsere Pilotkas – die Sommermützen der sowjetischen Soldaten. Es stellte sich heraus, dass sie die Flüssigkeit ganz gut hielten. Nach einiger Zeit verwandelte sich dieses “Geschirr” in eine echte emaillierte Kasserolle! Einen Löffel brauchten wir nicht, wir tranken die Suppe aus, da es keinen Bodensatz gab – das war ja eine Diätsuppe.

Was verwunderlich ist, ist der Fakt, dass dieses Essen unser Leben unterstützt hat, insofern, daß wir noch lebten und nicht umfielen. Ein Mensch ist ein wahrlich kräftiges Wesen. Was soll’s, sie würden uns wohl nicht mit Kaviar versorgen.

Von Schytomyr wurden wir dann in ein anderes Lager nach Sanok (Polen) verlegt. Wir hatten wieder alle Prozeduren, nur diesmal sorgfältiger, weil es ja das letzte Lager vor Deutschland war. Wir wurden gewaschen, desinfiziert, und bekamen sogar medizinische Hilfe. In Deutschland sollten wir steril ankommen. Und – na klar – ohne Juden.

Hier, im Sanok, war unsere Verpflegung noch diätetischer als vorher. Darum mussten wir die Toilette öfter benutzen. Diese Toilette sollte man extra erwähnen, dabei war sie für Menschen gedacht. Ein Graben von 15-20 Metern Länge und von 2 Meter Breite und ungefähr 1,5 Meter tief war das. Über dem Graben befanden sich ein Paar wackelige Bretter. Es passierte manchmal, dass die Menschen einfach in die Exkrementen gefallen sind. Entschuldigen Sie mich für solche unappetitliche Details.

Endlich, nachdem unsere interne und externe Krankheitserreger vernichtet waren, konnte man uns nach Deutschland schicken, näher an den Auftraggeber.

Vor der Abreise gab es eine Bekanntmachung, dass im Falle einer Flucht jeder zehnte “es wird schießen”[im Original deutsch] Es gab Flüchtlinge gleich am ersten Tag. Niemand wurde zwar erschossen, aber wir bekamen drei Tage lang kein Essen und kein Wasser. Nach der Ankunft wurden aus jedem Waggon Leichen geholt. Ich glaube, wenn sie geschossen hätten, hätte es weniger Tote gegeben.

Wir kamen in ein riesiges Umverteilungslager, StaLag VI K [Senne/Stukenbrock]. Es befand sich auf dem Territorium von Ruhr – einem Kohlegebiet, ähnlich wie unser Donbass. Hier wurden wir gründlich “bearbeitet”. Doch erstmal hat die Bewachung uns eine 3-Tages Ration Brot ausgegeben. Es gab eine Schlägerei um Brot, die wurde von den stärkeren dieser Meute, die schon den Tieren zu ähneln anfing, provoziert. Brot wurde zerrissen, wie die Beute von Raubtieren zerrissen wird. Nach dem Brotraub kam zu uns der General – Kommandant des Lagers, auf einem weißen Pferd. Er begrüßte uns:

– Meine Herren, russische Kriegsgefangene! Sie sind Schweine!

Einer der Gefangenen antwortete beleidigt:

– Und du bist erste! [im Original deutsch]

Der General war höflich und nicht verletzbar, doch er hat befohlen, zu unseren Ehren ein Konzert zu geben. Das “Konzert” dauerte 3 Tage und hat uns keine Freude gemacht. Jeder bekam Geschenke – Beulen, blaue Flecken, Knochenbrüche und andere Konzertannehmlichkeiten. Das Szenario wurde sicher vom General selbst geschrieben, und durchgeführt wurde es von den Überläufern aus den Kriegsgefangenen. Nach dem Konzert sollten wir gewaschen und desinfiziert werden, und alle unsere Haare mussten entfernt werden. Unsere Rasierer waren ganz stumpf, und die, die viele Haare hatten, sahen danach ziemlich blutig aus.

Die Qualität des Rasierens hat ein hochgewachsener lustiger Gefreite überprüft. Er zwang uns, sich vor ihm umzudrehen, um die Ergebnisse besser zu sehen. Wir mussten sogar mit dem Rücken zu ihm stehen und uns nach vorne beugen, damit auch da auf keinen Fall nur ein Härchen blieb. Wenn er ein Härchen bemerkte, so “liquidierte” er ihn mittels seines Feuerzeugs. Dabei hat er fröhlich gelacht und gefragt: “Gut?”

In diesem Lager bekam jeder Gefangene eine Nummer aus Aluminium um den Hals. Meine Nummer war 46268 StaLag VI K. Danach, mit 150 anderen Gefangenen, kam ich in ein Arbeitslager. Wir wurden dorthin wie Gentlemen kutschiert, in einem Passagierwaggon. Wir kommen an, ich lese: “Bahnhof Köln-Deutz”. Köln kannte ich noch von der Schule – Geschichte, Geografie. Hier wurden wir wieder gewaschen, bekamen neue Bekleidung. Auf dem Rücken und auf den Knien waren Buchstaben SU (Sowjet Union). Auf die “Bitte” von Bademeister haben wir “Wolga-Wolga” gesungen und machten uns auf den Weg zu unserem ständigen Wohnort, unsere Holzschuhe donnerten dabei auf dem Kopfsteinpflaster.

Eine große Fläche war mit doppeltem Stacheldraht umzäunt. Drinnen gab es nichts. Wir schliefen auf dem Boden, unter dem ruhigen Kölner Sternenhimmel, und daneben – “ruhig fließt der Rhein…[Original deutsch] D as war August 1942. Nach einer Woche haben wir unser Lager ausgebaut, und warteten jetzt auf Arbeitgeber, die nicht lange auf sich warten ließen. Die erste Firma, wo ich arbeitete, hieß “Hammacher”. Nach der Registrierung unserer Nummer schrie der Obergefreite Schmidt mit seinem bayrischen Akzent “r-r-r-raus!” Und entließ uns in die Welt. Mich und meinen Mitgefangenen hat ein Arbeiter der Firma begleitet. Unsere Arbeitsstelle war weit weg, und da wir zu Fuß gingen, konnte ich mir die Stadt ein bißchen anschauen. Um ehrlich zu sein, gefiel sie mir sehr gut. Heute kann man in unserem Fernsehen oft Bilder von Köln sehen, was mich dazu bringt, mich an die Vergangenheit zu erinnern. Unsere Arbeit bestand in der Entladung, Beladung, Transportierung von Metallteilen. Für uns Schwache und Abgemagerte war es harte Arbeit. Aber was erfreulich war, war die menschliche Behandlung, die wir von den deutschen Arbeitern erfahren haben, die mit uns Seite an Seite schufteten. Sich unserer Schwäche bewusst, versuchten sie, die schwerste Arbeit selbst zu erledigen. Und als sie von unserer Diätkost erfuhren, so versuchten sie uns auch hier zu helfen, obwohl sie es selbst schwer hatten. Alles war doch normiert.

Das Mitgefühl der Zivilisten, ihre Güte, ihre Hilfe mit Lebensmitteln, die Sauberkeit und Ordnung in unserem kleinen Lager, die erträgliche Behandlung unserer Wachmänner haben dazu beigetragen, daß ich wieder wie ein Mensch aussah. Ich war 19 und hatte vor keiner Arbeit Angst. In Köln war ich bis Ende von 1943. Arbeitete für verschiedene Firmen (Hammacher, Bozem, Joka u. a.)Am längsten arbeitete ich in der Firma “Kartoffelhandlung” und bei dem Postamt Deutz, wo ich mein Schuldeutsch sehr verbessert habe. Ich musste die schreckliche Bombardierung Kölns durch die Engländer miterleben, im Januar 1943. Circa 3000 Bomben wurden in der Nacht auf die Stadt abgeworfen. Es gab viele Opfer, viele zerstörte Häuser, Tausende wurden obdachlos. [obdachlos im Original deutsch] Unser Lager, das eigentlich aus der Luft nicht zu sehen war, brannte lichterloh.

Ein Gefangener ist nicht Herr seines Schicksals. Ende 1943 wurden aus unserem Lager 20-30 Leute ausgesucht und in die Grube “Maria-1” geschickt. Das neue Lager befand sich nahe des Dorfes Siersdorf.[Kreis Düren] Jetzt kannte ich schon die umliegenden Städte: Köln, Bonn, Aachen, Düren u. a. Manchmal wurden die Gefangenen, die Zahnschmerzen hatten, nach Bonn gefahren. Insgesamt gab es im Lager 1000 Gefangene. Das sind keine 150 Mann. Es war eng. Und die Arbeit unter Tage ist ja auch kein Paradies. Kontakt zu Zivilisten war minimal, da waren nur ich und der deutsche Bergarbeiter. Der Lagerkommandant Feldwebel Hamm nannte die Gefangenen nur “sauer Hund” [Original deutsch] und trainierte seinen Schäferhund auf “Erziehung” der Gefangenen. Die Arbeit war in 3 Schichten, das Essen wieder Diätkost – “Kohlrabi und Kohl mit Wasser”[Original deutsch] Ich begann wieder dahinzuschwinden. Alles ging in die Richtung, dass ich in die Dystrophie abglitt, obwohl mein deutscher Kollege mir den “zweite früschtik” [Original deutsch] gebracht hat. Das schrecklichste war, dass ich beim Husten Blut bemerkte. Ich dachte schon, das sei Tuberkulose. Solche Menschen wurden isoliert, aber nicht behandelt. Die Baracke, wohin sie gebracht wurden, nannten wir nur DU (russ. “dom umirajuschtschich” – Haus der Sterbenden). Das Lager hatte eine Sanitätsabteilung, doch da kam man nur mit Erlaubnis von Doktor Schröder (ich glaube, er hieß so) rein, der die Kranken zweimal pro Woche besuchte und nur am Tag. Also wartete ich darauf, in der III. oder zumindest in der II. Schicht zu arbeiten. Ich habe es geschafft, zum Doktor zu gelangen, und das hat mein Schicksal bis zum Ende der Gefangenschaft geprägt. Der Doktor wunderte sich, dass ich zwar schlecht, aber doch verständlich Deutsch spreche. “Junge, Junge,” – bemitleidete mich der Doktor und befreite mich für 3 Tage von der Arbeit.

Die Erholung von der schweren Arbeit war schon das beste Medizin. Beim nächsten Besuch nahm Doktor Blut und Schleim als Probe. Und er hat mich lange untersucht, mein Herz und Lungen abgehört. Heimlich, damit es niemand sah, holte er aus seiner Arzttasche Äpfel für mich und sagte mir fröhlich, daß sie aus seinem Garten stammten. Sagen Sie, ist das nicht der wahre Vater?

Endlich waren die Ergebnisse der Untersuchungen da, und Doktor sagte, dass alles mit meinen Lungen in Ordnung sei. “Aber ins Bergwerk gehst du bestimmt nicht mehr”, – sagte er, – “du wirst Übersetzer bei der Sanitätsabteilung”. Er hat mich sowohl vor der Grubenleitung, als auch vor der Lagerleitung beschützt. Mit meiner neuen Position ließ sich auch die “Diät” besser aushalten. Die gute Erinnerung an Doktor Schröder und die Sohnesliebe zu ihm werde ich bis ans Ende meiner Tage bewahren.

Ende 1944 wurde der Lager evakuiert, weil die Alliierten Truppen schon anrückten. Ich konnte von der Etappe fliehen und “verwandelte” mich in einen Ostarbeiter. Man muss aber sagen, daß zu dieser Zeit mein Status schon keinen ernsthaft interessierte. Alles deutete auf das Ende des Krieges. Nahe der Stadt Frondenburg [Fröndenberg?] wurde ich von den Amerikanern befreit. Und so endete mein Leben in der Gefangenschaft.

Nach der Repatriierung begannen aber die neuen Erprobungen, und manchmal war es schlimmer als in der Gefangenschaft. Wenn Sie es erlauben, erzähle ich irgendwann davon, wenn ich es schaffe. Ich habe natürlich einiges aus der Zeit der Gefangenschaft ausgelassen, da es mir aus meiner heutigen Sicht als nicht so wichtig erscheint. Nur eines möchte ich noch sagen: Dort, wo die Wehrmacht die Macht hatte, dort herrschte der Befehl, und wo die Zivilisten Macht hatten, dort traf man auf Mitgefühl, Wärme und Menschlichkeit. Für dieses Mitgefühl bin ich bereit, mich vor dem deutschen Volk zu verbeugen.

Und sei verflucht dieser Krieg, und daß solche Regime, wie die von Stalin und Hitler, nie wieder in der Welt herrschen können!

Gestatte Sie mir, von Ihnen Abschied zu nehmen.

Auf Wiedersehen! [Original deutsch]

Mit tiefster Achtung,

Ihr Donskoj.

Übersetzung: Lucy Shnyr