Galina Iwanowna K. – Freitagsbrief Nr. 68

Ukraine, Gebiet Tschernigiw

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bitte Sie, sich meine Geschichte anzuhören. Ich heiße Galina Iwanowna K. (geb. P.), geb. 30.8.1932, Wohnort ……, Gebiet Tschernigow.

Bis zum Beginn des Großen Vaterländischen Krieges lebte unsere Familie in Priluki, Gebiet Tschernigow. Wir waren zu viert. Ich erinnere mich an ein weißes einstöckiges Gebäude mit zwei Eingängen – direkt hinter der Gartenpforte führten Stufen zur Tür, auf der anderen Seite des Hauses gab es einen zweiten Eingang.

Dem Haus gegenüber befand sich der Friedhof, dort stand ein kleiner Glockenturm. Auf dem Hof wuchsen wunderschöne Fliederbüsche. Die Straße heißt heute Oktjabrskaja-Str. An die Hausnummer kann ich mich nicht erinnern; es war die 100 oder die 98. Meldeunterlagen aus dieser Zeit sind nicht erhalten. Ich habe mich bei der Suche nach Spuren meiner Familie an die Archive dreier Gebiete, die Standesämter und Passämter gewandt – aber mir konnte niemand helfen, da Priluki von den Faschisten besetzt war und die Akten vernichtet wurden. Nach dem Krieg war Priluki mal dem einen, mal dem anderen Gebiet zugehörig.

Bei Kriegsbeginn war ich acht Jahre alt. Mein Vater wurde zur Armee einberufen. Meine Mutter Berta Borisowna B. (ich weiß nicht, wann und wo sie geboren wurde) flüchtete mit meiner Schwester Ada (geb. 1939, vermutlich in Malaja Dewiza, Rajon Priluki, Gebiet Tschernigow) und mir. Auf dem Weg wurden wir von deutschen Flugzeugen beschossen. Alles Gepäck, das wir hatten, verbrannte oder ging verloren. Uns blieben nur die Kleider am Leib. Wir versteckten uns im Wald. Als die Flugzeuge verschwunden waren, gingen wir ins Dorf Tschernuchi im Gebiet Poltawa. Aber dort waren schon deutsche Truppen. Wir wurden in ein Gebäude gesperrt. Dort waren nur Juden – das war eine Art Ghetto. Meine Mutter klapperte mit Ada die Häuser im Dorf ab und bettelte um Essen. Als [es Winter wurde], hatten wir Glück: die Familie U. (Matrena Sidorowna und Iwan Romanowitsch) nahm mich auf. Sie nahmen mich nur auf, weil mein Vater Ukrainer war, und seitdem war es mir verboten, meine Nationalität zu nennen – zuerst wegen der Faschisten, und nachdem Krieg – nun, Juden waren bei uns nicht gerade beliebt; die Angabe dieser Nationalität im Fragebogen bedeutete, sich die Zukunft zu verbauen (oder zumindest eine höhere Bildung).

Aus den Erzählungen meiner Pflegeeltern und später auch einiger Anwohner weiß ich, dass meine Mutter zusammen mit Ada in ein „Krankenhaus“ geschickt wurde. Mama hatte Erfrierungen an den Beinen und Ada wurde in der Abteilung für Infektionskrankheiten eingesperrt.

Alle jüdischen Kinder wurden später aus Tschernuchi nach Lubny im Gebiet Poltawa gebracht. Anwohner, die das heimlich beobachteten, sahen, wie ein Faschist die kleine Ada über die Straße schleppte, er hielt sie am Fuß und sie hing kopfüber herab – sie war gerade zwei Jahre alt. In Lubny wurden alle diese Kinder in einer Gaskammer ermordet.

Meine Mutter wurde vermutlich 1943 auf dem Gelände des ehemaligen Kindergartens erschossen – auch das berichteten mir Anwohner.

Nach dem Kriegsende und der Befreiung von Tschernuchi ging ich zur Schule, die ich auch abschloss. 1949 erhielt ich eine Geburtsurkunde, in der die Nationalität meiner Mutter Berta B. nicht genannt wurde. Mit diesem Dokument wurde ich zum Studium im Lebensmittelindustrie-Technikum in Lochwiza im Gebiet Poltawa zugelassen, das ich 1953 abschloss. Ich heiratete und zog nach B…., wo ich noch heute lebe.

Hochachtungsvoll, Galina Iwanowna K.

PS.: Ich bin schon alt und kann nicht nur nicht mit dem Computer umgehen, selbst das Schreiben mit der Hand fällt mir schwer. Daher hat meine Tochter Natalija Anatolewna K. diesen Brief für mich aufgeschrieben.

Übersetzung aus dem Russischen Gero Fedtke

Anmerkung: Das Verstecken von Juden wurde in den besetzten Gebieten der Sowjetunion von den Besatzern – egal welcher Nationalität – mit der Todesstrafe bedroht, die auch vollstreckt wurde.