Alexandra Fjodorowna Arssenjewa – Freitagsbrief Nr. 87

Als 87. Neuen Freitagsbrief haben wir einen der wenigen Briefe von weiblichen sowjetischen Kriegsgefangenen ausgewählt. Wir erhielten ihn im Jahr 2007;  als unbewaffnetes Mitglied im Sanitätsdienst war schon ihre Gefangennahme ein Bruch des allgemeinen Kriegsvölkerrechts.

Es schreibt Ihnen Alexandra Fjodorowna Arssenjewa, Kriegsteilnehmerin bei der Verteidigung von Odessa und Sewastopol.

Dank dem Einsatz unserer Küstenarmee haben Odessa und Sewastopol die Ehrenbezeichnung „Heldenstadt“ bekommen. Sie stand unter dem Befehl von General Iwan Jefimowitsch Petrow.

In Sewastopol gehörte ich zum 224. Sanitätsbataillon der 172. Division, die in den McKenzy-Bergen („Mekensijewskije gory“)* zur Verteidigung eingesetzt war. Das Sanitätsbataillon hatte seinen Standort auf dem Gelände der Maximow-Datsche („Maximowa datscha“)**. Ich habe ein Foto, auf dem ich zusammen mit General Petrow in den McKenzy-Bergen aufgenommen wurde. Er war einmal mit dem Bus bei uns vorgefahren, versammelte alle Frauen und fuhr mit ihnen in Frontnähe. Dort wurde dieses Foto gemacht „für die Nachkommen“, wie der General sagte.

Die Nina Onilowa ist nämlich gefallen und von ihr ist kein Foto geblieben.

Die Kopie dieses Fotos lege ich bei.

Entschuldigen Sie bitte meine Handschrift. Die Hand zittert, das Schreiben fällt mir schwer. Aber Sie werden es schon verstehen.

Auf dem Foto sitzt General Petrow in der Mitte, ich stehe hinter ihm, über seinem Kopf. Dann folgt eine Frau, danach der Divisionskommandeur Iwan Laskin.

In der Zeitung habe ich gelesen, dass diejenigen, die im Krieg gekämpft haben und in deutsche Gefangenschaft geraten waren, materielle Hilfe bekommen.

In Sewastopol gab es grausame Kämpfe. Irgendwann hatten wir keine Munition mehr, keine Waffen, hatten nichts mehr zu essen, kein Verbandsmaterial. Vom Festland kam kein Ersatz. Die Vorgesetzten ließen sich 2 U-Boote kommen. Sie fuhren davon und ließen uns zurück. Wir saßen unter den Felsen, da kamen die Vorgesetzten vorbei auf dem Weg zu den Booten. Ich fragte General Petrow „Iwan Jefimowitsch, Sie fahren alle weg, und was wird aus uns?“ General Petrow erwiderte „Wir werden Euch eine Staffel schicken“, aber es kam keine Staffel und so gerieten wir in Gefangenschaft. Wir hatten nichts mehr zum Schießen, nichts zu essen und kein Verbandsmaterial für die Verwundeten. Die Deutschen jagten uns von der 35. Batterie bis nach Simferopol [Dulag 241] zu Fuß. In Simferopol waren wir zunächst in einem Gefängnis, dann brachten sie uns per Bahntransport nach Slawuta [Stalag 301Z], wo wir uns in Kasernen unserer Armee befanden und später ging es weiter nach Soest in Deutschland. Bei der Ankunft dort hatte ich schon Tropenmalaria. Ich hatte starke Schüttelkrämpfe, 40 º Fieber und konnte nicht mehr laufen. Die Frauen unter uns, die Deutsch konnten, gingen zu den Deutschen und fragten nach Hilfe. Die Deutschen schickten uns in ein deutsches Krankenhaus, unsere Frauen trugen mich auf einer Trage, das weiß ich noch.

Im Krankenhaus bestätigten sie die Diagnose „Tropenmalaria“ und begannen mit der Behandlung. Aber ich konnte schon nicht mehr laufen. Nach der Behandlung hörten die Schüttelanfälle auf, das Fieber sank, und dann holte mich ein Deutscher ab, der brachte mich nach …( unles., Lippstadt ?) in ein Werk. Dort arbeitete ich dann.

Von den Amerikanern wurden wir befreit, sie brachten uns in ein Lager für russische Kriegsgefangene nach Essen. Von dort ging es dann mit der Bahn in das Gebiet, wo unsere Truppen waren, nach …(unles., Lüdersdorf ?). Zwei Ärzte kamen und baten, dass sich medizinisches Personal meldet für die Arbeit bei ihnen in den Einheiten, denn dort fehlte es. Ich hatte eine Freundin, Tamara… (unles., Jelezkaja ?), die war auch Feldscher*** in unserer Division. Wir beratschlagten und meldeten uns zur Arbeit in einer Einheit. Bis 1946 blieben wir, und im September 1946 kam ich nach Hause.

Soweit in aller Kürze.

Entschuldigen Sie, ich habe schlecht geschrieben.

Die Hand zittert, ich kann (schon) nicht mehr schreiben. Über Hilfe würde ich mich sehr freuen.

Alexandra Fjodorowna Arssenjewa

20.08.2007

Übersetzung Sibylle Albrecht

* F. McKenzy – Konteradmiral, gebürtiger Engländer, seit 1765 im Dienst der Russischen (Schwarzmeer-)Flotte; nach ihm benannte Erhebung in der Nähe von Sewastopol.

** Maximow-Datsche – bei Sewastopol ehemal. Gartenschloß des Grafen Maximow aus dem 19. Jahrh., mit Landschaftspark.

*** Feldscher – in der russischen Armee Bezeichnung für unterste Stufe eines Militärarztes; in der Sowjetunion und den heutigen Nachfolge-Republiken zivile Tätigkeit im mittleren medizin. Dienst, Ausbildung unterhalb des Arztes, aber höherwertiger als die der Krankenschwestern.