Aleksandr Isakowitsch P. – Freitagsbrief Nr. 211

Saporischschja, Ukraine

2014 (den letzten Brief von Aleksandr Isakowitsch erhielten wir 2021)

Ich bin Aleksandr P., das ist meine Geschichte.

Ich lebte mit meiner Familie in der jüdischen Siedlung Ostrowskoje im Perwomajskij Kraj, Oblast Krimskaja.

Unser Vater Isaak Mojsejewitsch P. war Kolchose-Vorsitzender. Er wurde am 18. August 1941 in die aktive Armee eingezogen und fiel 1942 bei der Verteidigung Sewastopols.

Meine Mutter blieb mit fünf Kindern allein zurück. Ich war mit 12 der Älteste, meine jüngste Schwester Fanja war ein Jahr alt.

Unmittelbar vor dem Einfall der Deutschen wurde die jüdische Bevölkerung aus unserer Siedlung evakuiert, wir rannten beinahe. Unsere Mutter konnte mit so vielen Kleinkindern nicht zu Fuß bis zur Station Kertsch (über 200 km) gehen, von wo aus man die Menschen evakuierte und ins Kuban-Gebiet sowie in den Kaukasus schickte. Die leerstehenden Häuser wurden von Flüchtlingen aus der Oblast Cherson besiedelt. Um unsere jüdische Abstammung zu verbergen, änderte unsere Mutter unsere jüdischen Namen in russische. Früher hieß ich Dawid – nun war ich Aleksandr, mein Bruder Iosif wurde zu Pjotr. Mein Schwesterchen Fanja wurde von nun an Fenja genannt.

Die Deutschen besetzten unser Gebiet im Oktober 1941. Zu Beginn des Winters 1942 kam eine Strafkolonne in unseren Ort und erschoss die verbliebenen Juden. Damals sind wir nicht verraten worden.

Die Deutschen errichteten eine neue Herrschaft. Anstatt der Kolchose gab es jetzt eine Gemeinde, in der alle Ortsbewohner für die Deutschen arbeiten mussten, auch [ich] und meine Mutter, unter Todesangst und ohne Lohn für unsere Arbeit. Die allerschlimmste Zeit begann, als es kein Geheimnis mehr war, dass wir Juden waren. Wenn die Deutschen in den Ort kamen, versteckten sich die Kleinen in Schuppen oder dem verlassenen Nachbardorf Kugulni. Mutter und ich arbeiteten und konnten jederzeit verraten werden. Dann kam der Sohn eines ehemaligen Gutsherren, Strjukow, 35 Jahre alt, in den Ort. Eines Tages tauchte Strjukow zusammen mit einem Polizai bei uns zu Hause auf. Sie fingen an, meine Mutter und mich zu misshandeln. Mich schlugen sie heftig vor den Augen meiner Mutter. Wenn ich zu Boden fiel, hoben sie mich mit den Füßen wieder hoch. Dann schleiften sie meine Mutter und mich zum Polizeirevier und misshandelten uns noch lange – schlugen uns beide grausam. Ich war voller Blut. Sie drohten damit, uns am nächsten Morgen in die Kreisstadt zu bringen und den Deutschen zur Erschießung zu überlassen.

Ein paar Tage später, etwa um drei Uhr nachmittags, erschien Strjukow zusammen mit den Kreisvorsitzenden und einem deutschen Soldaten. Die Kinder liefen auseinander beim Anblick der Deutschen. Der Soldat fing alle meine kleinen Brüder ein, stellte sie in einer Reihe auf und zog ihnen die Höschen herunter. Aber beschnitten war nur ich – der Älteste. Meine Mutter und ich waren zu diesem Zeitpunkt bei der Arbeit, sie fuhren nicht los um mich zu holen.

Und es gab noch viele Momente der Angst, an die es schwer fällt, sich zu erinnern.

Das Leben unserer Familie hing am seidenen Faden. Anfang Winter 1944 wurde ich zusammen mit anderen Männern während einer Razzia gefasst und in ein Konzentrationslager gebracht, das sich in der Ortschaft Woinka befand, im Rajon Krasnoperekopskij der Krim.

Die KZ-Häftlinge mussten Panzerabwehrgraben ausheben.

Wir arbeiteten bei jeder Witterung. Zwei Tage vor Ankunft der sowjetischen Truppen wurde das Lager in der Morgendämmerung bombardiert. Die Bomben trafen Lagerräume und die Räume der Wachen. Die Sicherheitszäune waren durchbrochen. Die Gefangenen rannten auseinander.

In der Morgendämmerung des 9. April 1944 kam ich nach Hause. Am 10. April 1944 wurde die Siedlung von den Deutschen befreit.

Zweieinhalb Jahre lang lebten wir in ständiger Todesangst und unter den grausamen Bedingungen von Hunger und Kälte.

Aus dem Russischen von Jennie Seitz