Nikolaj Iwanowitsch A. – Freitagsbrief Nr. 89

Wir beziehen seit einigen Jahren auch die Überlebenden der Rückzugsverbrechen der Wehrmacht in unser Projekt ein, weil es für die Überlebenden keinen Unterschied bedeutet, ob sie ihre Heimat, Eigentum und Angehörige durch Verbrechen der SS und Einsatzgruppen oder der Wehrmacht verloren haben und wie das Handeln von den Tätern begründet wurde. Dies ist ein Bericht aus einem Dorf, das bei Annäherung der Roten Armee von der Wehrmacht in Brand gesteckt wurde.

Nikolaj Iwanowitsch A.
Gomel, Belarus

Juni 2019

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit, die Sie all denen –  und auch mir persönlich – widmen, die im Großen Vaterländischen Krieg Leid erfahren haben.

Am Beginn des Krieges wurde ich gerade sechs. Was Krieg bedeutet, verstand ich, als die Frauen unseres Dorfes nach der Mobilisierung mit lautem Weinen ihre Männer an die Front verabschiedeten. Keiner dieser Frontkämpfer kehrte nach dem Sieg und dem Ende des Krieges in unser Dorf zurück; ihre Frauen und ihre Verwandten erhielten Benachrichtigungen darüber, dass sie in den Schlachten für die Heimat gefallen waren.

Im Juni 1941 sah ich zum ersten Mal deutsche Soldaten. Sie fuhren auf Fahrrädern Richtung Osten durch unser Dorf. Zur gleichen Zeit flogen am Himmel deutsche Flugzeuge, man hörte Schüsse …

Später wurde im Nachbardorf Rogozno eine deutsche Garnison gebildet. Zu ihr gehörte nur ein deutscher Offizier, der das Kommando hatte über die „Polizaj“, die Verräter unter den russischen, belorussischen und ukrainischen Nationalisten. In den Nächten erschienen im Dorf Rogozno Partisanen und überfielen die Garnison. Man hörte Schüsse. Dabei gab es Todesfälle unter den Angehörigen der „Polizaj“. Aber der Garnisons-Kommandant blieb immer unverletzt.

In unserem Dorf wurde ein Dorfältester bestimmt, der verschiedene Aufträge ausführen musste und die Garnison in Rogozno, die Strafbataillone und die einfachen deutschen Soldaten mit Lebensmitteln zu versorgen hatte. Die Garnison nahm alle Kühe im Dorf an sich, aber einigen Frauen wurde erlaubt, in die Garnison zu kommen, ihre Kühe zu melken und die Milch mit nach Hause zu nehmen.

 Ich möchte auch darauf hinweisen, dass einige der einfachen deutschen Soldaten ab und zu in die Häuser gingen und die Bewohner unseres Dorfes warnten, damit die Mütter ihre Kinder in Kellern und im Untergrund versteckten, die jungen Mädchen (ihre Töchter, Schwestern, Nichten), damit sie nicht nach Deutschland zur Zwangsarbeit verschleppt wurden. 

Ich hatte keine Schwestern, nur einen jüngeren Bruder, aber zwei Kusinen, Sonja und Olga, wurden nach Deutschland zum Arbeiten verschleppt. Nach Kriegsende kamen sie in schlechtem Gesundheitszustand nach Hause und erzählten, dass sie beim „Bauern“ [Original so im russischen Text mit kyrillischen Buchstaben] in der Landwirtschaft arbeiten mussten. Heute leben sie nicht mehr.

 Damals habe ich auf kindliche Weise begriffen, dass es faschistische Okkupanten gab, aber auch gute Deutsche, die uns in diesen Kriegsgräueln überleben halfen.

Bis heute erinnere ich mich an einen Wortwechsel mit einem deutschen Soldaten, der in unser Haus kam und sagte, er wolle „Schnaps“ [Original so im russischen Text mit kyrillischen Buchstaben] haben. Ich gab ihm eine Halbliterflasche Selbstgebrannten, die meine Mutter unter dem Ofen versteckt hatte. Bevor er die Flasche nahm, zwang er mich, einen Schluck von diesem Schnaps zu nehmen.

 Im Juni 1944 kam für den Bezirk Mogiljow die Befreiung von den faschistischen Besatzern durch die Rote Armee. Der deutsche Offizier und die „Polizaj“ verließen das Dorf. Auf der Landstraße, an der die deutsche Garnison lag, waren sowjetische Soldaten unterwegs. Ich, als neugieriger Junge, hatte keine Ahnung, was ich riskiere, und durchsuchte das ganze Gebäude der deutschen Garnison und die Artilleriestellung mit Löchern von Durchschüssen. Danach ging ich in unser Dorf zurück, in dem noch einige deutsche Soldaten waren. Sie sammelten Balken für eine kleine Brücke, auf der sie Soldaten und Militärtechnik über den Bach bringen wollten.

Aus dem Osten kamen Autos mit deutschen Soldaten heran, und uns kamen Faschisten mit Fackeln in den Händen entgegen. Sie zündeten die Hausdächer in unserem Dorf an. Mein kriegsverletzter Vater und ich rannten zum rettenden Keller meines Onkels, wo schon meine Mutter und mein Bruder waren. Da waren viele Leute, aber es gab kein Trinkwasser. In dem Keller verbargen sich auch ungefähr zehn „Polizisten“ in deutscher Uniform. Nach einiger Zeit kam ein hochrangiger Deutscher mit einer Ordonnanz, der zwei Pferde angespannt hatte.

Der Deutsche befahl allen, den Keller zu verlassen und fragte:“ „Wifel Minuten russisch Soldaten hier…“ [So im Original mit kyrillischen Buchstaben] Niemand verstand, was er fragte, auch ich nicht. Als er sah, dass er nicht verstanden wurde, winkte er ab und bedeutete uns, dass wir uns wieder im Keller verstecken könnten. Danach nahm er die deutschen „Polizisten“ in Uniform mit und ging.

Um uns herum brannten die Häuser, die deutschen Soldaten, die im Dorf Ramshino waren, und die sowjetischen Soldaten im Dorf Rogozno, wo die deutsche Garnison gewesen war,  schossen aufeinander. Als die deutschen Soldaten unser Dorf verließen, bombardierten sowjetische Flugzeuge die Kolonnen deutscher Militärtechnik irgendwo an der Grenze zwischen den Bezirken Shklowskij und Krugljanski, wo es keine Dörfer mehr gab.

So sah die Kindheit vieler belorussischer Kinder in den Kriegsjahren aus, und auch meine.

Ich danke Ihnen noch einmal für die finanzielle Hilfe und die Aufmerksamkeit, die Sie mir schenken. Ich wünsche Ihnen Gesundheit  Und alles Gute.

Ich habe nichts dagegen, dass meine Erzählung in Deutschland veröffentlicht wird.

Nikolaj Iwanowitsch A.

Übersetzung aus dem Russischen Karin Ruppelt