Krasnjanskij Alexej Iwanowitsch – Freitagsbrief Nr. 85

Auch dieser Brief aus dem Jahr 2005 wurde erst jetzt übersetzt. Das Lager, aus dem die 75. Infanteriedivision der 9. US-Armee die sowjetischen Kriegsgefangenen am 28. April 1945 befreiten, war das Stalag VI A in Hemer. Der Fotograf des U.S. Army Signal Corps, Corporal J.D.Karr, hat im Lager fotografiert und fünfzig Jahre später die Fotos dem Stadtarchiv Hemer übergeben, damit die deutsche Öffentlichkeit die Taten der deutschen Wehrmacht sieht. Wir haben Fotos von CPL Karr in unserer Wanderausstellung verwendet. Seine Bildunterschriften sagen aber auch alleine sehr viel aus, das Lager war im übrigen für die Belegung mit 3.000 Mann konzipiert:

Zwei russische Gefangene in diesem deutschen Lager in Hemer, Deutschland, zeigen die Ergebnisse der deutschen Hungerpolitik. Der Mann links ist sehr dünn und kaum in der Lage alleine aufzustehen. Der Mann rechts hat ein geschwollenes Gesicht, ein weiteres Zeichen des Hungers. Wir haben hier ungefähr 22.000 Mann angetroffen, als die 75. Infanteriedivision, 9. U.S. Armee das Lager befreite. 9.000 waren im Lazarett und litten an Tbc, Ruhr, Unterernährung und Typhus.

Russische Kriegsgefangene, die von Einheiten der 75. Infanteriedivision, 9. U.S. Armee, befreit wurden, teilen eine Ration, die sie von amerikanischen Truppen erhalten haben, in zehn Teile. Wegen ihrer Unterernährung werden einige der Männer mit Sicherheit sterben, sagen russische Ärzte im Lager; es ist nur eine Sache weniger Tage.

Krasnjanskij Alexej Iwanowitsch
Ukraine, Gebiet Lugansk

Ich, Krasnjanskij Alexej Iwanowitsch, geboren 1921, wurde 1940 in die Armee eingezogen und diente ein Jahr im Gebiet Brest. Bereits in den ersten Tagen des Krieges wurde unsere Einheit gefangengenommen. Ich und meine Kameraden wurden nach Deutschland geschickt. Vier Jahre lang bekam ich alle Mühsal der Kriegsgefangenschaft am eigenen Leib zu spüren. Wir schliefen bei Regen und Kälte unter freiem Himmel. Morgens bist du aufgewacht, und der Körper neben dir war schon kalt. Du rückst näher an jemanden heran, der noch warm ist. So versuchten wir zu überleben. In der Nacht starben sie zu Hunderten.

Danach habe ich zwei Jahre in einer ländlichen Gegend bei einem Gutsbesitzer gearbeitet. Dann kam ich in ein Bergwerk im Ruhrgebiet. Wo genau, weiß ich nicht mehr. Ich weiß nur eins: Die Arbeit war sehr schwer, wir schufteten bis zur völligen Erschöpfung. Das Essen war miserabel. Wir waren fast immer hungrig. Und nur dank der deutschen Arbeiter, die uns heimlich, unbemerkt von den Aufsehern, Brotkrumen zusteckten, habe ich unter diesen furchtbaren Bedingungen überlebt. Kurz vor Ende des Krieges war ich so abgemagert, dass man mich in ein Todeslager schickte. Als die Amerikaner, die uns befreiten, in die Baracke kamen und sahen, in welchem Zustand wir waren, nahmen sie ihre Soldatenmützen ab und standen so vor uns und weinten. Damit wir wieder halbwegs wie Menschen aussahen, fütterten sie uns vorsichtig und sorgsam.

Meine Unterschrift: [Krasnjanskij]

1. Juni 2005 Aus dem Russischen von Jennie Seitz